Das Elixier der Unsterblichkeit
– merkwürdigerweise nicht auf Sasha –, weil ich solchen Verleumdungen Glauben geschenkt hatte. Dann schimpfte sie meinen Großonkel dafür aus, dass er Lügen verbreite und versuche, zwei unschuldige Jungen zu verderben.
»Meine Mutter, möge sie in Frieden ruhen, war eine ehrbare Frau, Witwe eines angesehenen Kaufmanns in Chertnow! Er war ein guter Mensch, und ich bin stolz darauf, seine Tochter zu sein.«
Aufgebracht stieß sie ein paar deutsche Sätze aus. Wir verstanden nicht, was sie sagte. Das tat hingegen mein Großonkel. Er wurde sichtlich kleinlaut.
Mein Bruder und ich setzten uns aufs Sofa und verfolgten den theatralischen Auftritt zwischen den Erwachsenen, die schrien und wild gestikulierten. Wir waren an so etwas in unserem friedlichen Hause nicht gewöhnt. Eigentlich hätten wir verängstigt sein müssen, doch der Streit hatte etwas Unwirkliches an sich, sodass wir zwischen Weinen und Lachen schwankten.
Großmutter loderte vor Wut. Mein Großonkel reckte die Arme zum Himmel und rief Gott zum Zeugen an für seine Unschuld. Doch Großmutter erhob erneut die Stimme: »Franci, du hast mich vor meinen Enkelkindern lächerlich gemacht. Das ist entsetzlich! Dass du dich nicht schämst! Wie kannst du es wagen, den Namen meiner seligen Mutter zu verunglimpfen?«
Wieder flogen deutsche Ausdrücke durch die Luft. Das Gesicht meines Großonkels war aschgrau. Er schwitzte, kleine Bäche liefen an seiner Stirn hinunter. Mit schleppenden Schritten ging er zur Tür und knallte sie zu.
Nach diesem Tag dauerte es lange, bis ich meinen Großonkel wiedersah. Erst im Jahr darauf, zu Sashas Beerdigung.
MIRJAM
Mirjam Neumann war arm, doch keineswegs frühreif oder einfältig. Nicht besonders schön, zugegebenermaßen, dennoch verdiente sie es nicht, einsam und verlassen zu sein. Sie war klein, dick und rund. Mit einem unter dem Kinn gebundenen schwarzen Kopftuch sah sie aus wie ein Dienstmädchen oder eine Bauersfrau. Sie wurde bald dreißig und war immer noch Jungfrau. Warum sie nie geheiratet hat, kann ich nicht mit Gewissheit sagen.
Dass sie keinen Mann gefunden hatte, wunderte die Menschen in ihrer Heimatstadt. Denn die Bewohner von Chertnow pflegten in solchen Fällen Familienverbindungen zu nutzen, und auch Kupplerinnen konnten nützlich sein. In gewissen Fällen bat man das Gemeindeoberhaupt, Briefe an Kollegen in den Orten der Umgebung in Galizien zu schicken. Auf die eine oder andere Weise, früher oder später, tauchte immer ein passender Freier auf. Keine jüdische Frau in der Stadt musste verzweifeln.
Mirjam war das jüngste Kind einer Familie, die in Armut lebte. Ihre Eltern waren geübt in der uralten Kunst, über die Kranken zu wachen und um die Toten zu trauern. Ihre ersten vier Kinder, vier Jungen, starben im Säuglingsalter.
Rachel, die älteste Tochter, war der Liebling aller. Sie wurde früh auf ihre Verheiratung vorbereitet. Sie konnte waschen, bügeln, kochen, religiöse Rituale ausführen. Es gab kein wohlerzogeneres Mädchen in ganz Chertnow. Der Vater pflegte zu prahlen, sie sei auf die Welt gekommen wie die großen jüdischen Königinnen der Geschichte, mit der Nabelschnur um den Hals.
Die zwei Jahre jüngere Mirjam wirkte dagegen kläglich und arm im Geiste. Die Eltern sagten ihr eine ungewisse Zukunft voraus. Als Kind war sie willensschwach und verschlossen. Sie antwortete schüchtern, wenn man sie ansprach, und sagte fast nichts aus eigenem Antrieb. Immer erbte sie die Kleider und Schuhe der Schwester, wenn sie für diese zu abgetragen waren, und da sie größere Füße hatte als Rachel, ging sie immer in zu kurzen und zu engen Schuhen. Sie hatte schon früh düstere Lebenserfahrungen gemacht und erwartete nur Vorwürfe, Zurechtweisungen und herabsetzende Bemerkungen. Allerdings brachte ihr der Vater das Lesen und Schreiben bei, doch er tat es, als würde er eine Fremde unterrichten. Es beschämte ihn, dass Mirjam sich nie ein Wort von dem merken konnte, was sie gerade gelesen hatte. Sie verstand jeden Satz für sich, doch jeder einzelne löschte den vorhergehenden aus, mit der Folge, dass ihr die Gesamtheit immer verlorenging.
Nur die Mutter, eine wortkarge Frau, behandelte Mirjam ab und zu fürsorglich. Sie hieß Hanna und kam aus Plotnow, einer jüdischen Kleinstadt in der Nähe. Ihr Vater war Müller, und sie war die Jüngste einer Geschwisterschar von neun Mädchen. Sie hatte schwache Augen, und ihr stumpfsinniges, leicht betrübtes Aussehen verbarg ihren eigentlichen
Weitere Kostenlose Bücher