Das Elixier der Unsterblichkeit
hervor.
10.
DER JOURNALIST
EIN GEHEIMNIS WIRD GELÜFTET
Es war mit hoher Wahrscheinlichkeit im Frühjahr 1964, denn Großvater lag schon im Grab. Mein Bruder Sasha und ich, damals vierzehn Jahre alt, spielten mit einem Ball im Schlafzimmer, das wir mit Großmutter teilten. Wir stellten uns vor, es wäre das Finale des Fußball-Europacups im Wiener Praterstadion, zwischen Inter Mailand und Real Madrid. Ich, der blitzschnelle Italiener Sandro Mazzola, dribbelte an Sasha und der ganzen spanischen Abwehr vorbei und gab einen kräftigen Schuss auf den Nachttisch ab, der das Tor war. Doch der Ball ging übers Tor und traf das große dunkle Gemälde an der Wand.
Das Porträt stellte Großmutters Mutter Mirjam Neumann dar, 1907 gemalt von einem Amateur. Damals war sie etwa vierzig Jahre alt gewesen, sah jedoch viel älter aus: verhärmt und düster.
Das Bild fiel krachend zu Boden. Mein Großonkel stand in der Küche und verhandelte mit Großmutter über einen kleineren Kredit, denn die fünfhundert Dollar, die er für seine Lebensgeschichte von den Mormonen in Salt Lake City bekommen hatte, waren längst verbraucht. Der Lärm ließ beide ins Schlafzimmer stürmen. Großmutter war völlig außer sich. Ich habe noch ihr Schreien im Ohr: »Wie könnt ihr mir so etwas antun? Ist euch denn gar nichts heilig? Warum lasst ihr meine geliebte Mutter nicht in Frieden? Was für fürchterliche Kinder!« Sie wollte uns ohrfeigen, doch die Hausmeisterin kam uns unerwartet zu Hilfe. Als Großmutter es klingeln hörte, vergaß sie unser Verbrechen und lief zur Haustür, um den letzten Klatsch aus dem Viertel zu erfahren.
Mein Großonkel half uns, das Porträt wieder aufzuhängen. Mit ernstem Blick bat er uns, in Zukunft vorsichtiger zu sein.
»Es ist ungut, die Toten zu stören«, sagte er. »Man darf sie nicht aus dem Schlaf wecken. Sie verdienen ihre Ruhe. Niemand hat das Recht, sie dazu zu zwingen, als Gespenster umzugehen.«
Warum die Augen von Großmutters Mutter so traurig waren, habe ich mich oft gefragt. Ihr dunkler Blick war das letzte, was ich jeden Abend vor dem Einschlafen, und das erste, was ich jeden Morgen nach dem Aufwachen sah, denn das düstere Gemälde hing direkt gegenüber dem Doppelbett, das Sasha und ich teilten. Mochte sie mich nicht? Ich nahm die Gelegenheit wahr, meinen Großonkel zu fragen, der ja alle Fragen beantworten konnte. Er beruhigte mich und erklärte, dass ihre Trauer nichts mit mir zu tun habe. Sie komme daher, dass sie sich immer so einsam fühlte.
»Wie einsam sich ein Mensch fühlen kann, das ist kaum mit Worten zu beschreiben«, sagte er. »Und Mirjam, das ist mal ganz klar, war ein äußerst einsamer Mensch, ihr ganzes Leben lang.«
Mein Großonkel nutzte die Gelegenheit, unaufgefordert eine Geschichte zu erzählen. Mit schicksalsschwerer Stimme begann er, Mirjams Kindheit im Schatten ihres Vaters zu beschreiben, geknechtet und ungeliebt, im Galizien der kleinen Häuser und der großen Kinderscharen, genauer gesagt in der abgelegenen Kleinstadt Chertnow. Die Juden lebten hier selbstverständlich abgesondert, und ihr Schicksal wurde vom Zaddik Menachem gesteuert, dem man mystische Kräfte zuschrieb und der von den Chassidim in ganz Osteuropa verehrt wurde.
Nach einer ganzen Weile hielt er inne, sah sich im Zimmer um, wie um sich zu vergewissern, dass Großmutter nicht in der Nähe war, und dämpfte die Stimme: »Ich will euch etwas anvertrauen, Jungs.«
Ich stellte mir vor, dass er uns ein paar Details über die Zauberkünste des Zaddiks enthüllen wollte. Doch es war ein anderes Geheimnis, in das er uns einweihte.
»Es war vor dem Tod ihres Vaters«, flüsterte er, »da wollte Mirjam unbedingt ein Kind haben. Der Vater des Kindes war arm, ein Fremder, jung, deutlich jünger als sie, fast noch ein Junge, ohne Zuhause, landflüchtig aus Weißrussland, und er blieb nur kurze Zeit in Chertnow, gerade lange genug, um sich zu besinnen, bevor er sich wieder in die Welt hinausbegab.«
DER THEATRALISCHE STREIT
Sasha und ich wollten unseren Ohren kaum trauen. Die Erkenntnis, dass Großmutter keinen Papa gehabt hatte, weckte mein Mitleid. Ich lief sofort hinaus, um sie zu trösten. Sie stand am Herd, steckte den Daumen in die Kartoffelsuppe und leckte ihn ab. »Weder zu heiß noch zu kalt«, stellte sie zufrieden fest. Ich erzählte ihr, was wir gehört hatten, und hoffte, meine Anteilnahme würde sie freuen. Doch statt mir zu danken, begann sie zu schreien. Sie war schrecklich böse auf mich
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