Das Elixier der Unsterblichkeit
Kind leichtfiel, mir selbst zu verzeihen, wenn ich vom Weg der Wahrheit abwich.
»Jungen, ich bin überzeugt davon, dass ihr nicht wisst, was sein Vorname bedeutet.«
Ein nachdenkliches und unsicheres Schweigen folgte auf die Worte meines Großonkels.
Dann holte er aus der Schreibtischschublade ein Blatt Papier und einen Stift, zeichnete ein paar Figuren darauf und fuhr fort: »Heutzutage bedeutet ›Moishe‹ für die meisten nichts anderes als den Vornamen eines jüdischen Jungen. Aber die esoterischen Kräfte, die diesem Namen innewohnen, bekommen für den, der in die geheime Welt der Kabbala eingeweiht ist, wieder Leben und Farbe. Dieser Name besteht aus den hebräischen Buchstaben mem, shin, he. Jeder Buchstabe hat einen Zahlenwert, repräsentiert aber auch ein Symbol. Mem steht für Wasser, shin für Feuer und he für Atem. ›Moishe‹ bedeutet also: der, der durch den Atem (also durch sein Leben) Wasser und Feuer (oder die männlichen und weiblichen Energien) in uns vereinen kann. Euer Vorvater Moishe, der Kabbalist, vereinte einzigartige Dinge in sich.«
Wieder wurde mein Onkel von Großmutter unterbrochen, die in der Tür erschien. Ihr Blick wurde finster, als sie entdeckte, dass wir nicht nach draußen gegangen waren.
»Ich halte das nicht mehr aus. Franci, bist du taub geworden? Wie oft habe ich dir schon gesagt, du sollst den Jungen mit deinen Räubergeschichten, die du dir zusammengeträumt hast, keine Flausen in den Kopf setzen. Du bist ein unmöglicher Kerl. Man merkt, dass du seit über dreißig Jahren keine Frau mehr hast.«
Großmutter verschwand. Mein Großonkel war blass geworden. Mit gesenktem Kopf saß er da und starrte auf den Fußboden. Sein plötzliches Schweigen kam mir besorgniserregend vor.
Da geschah etwas Unerwartetes. Großvater schaute ins Schlafzimmer. Er war tagsüber selten zu Hause, sondern verbrachte die Zeit bis zum Abendessen in einem Wirtshaus mit dem ironischen Namen Der eierlegende Hahn. Hier aß er zu Mittag immer Ochsenschwanzsuppe, das billigste Gericht, und spielte Karten mit seinen Freunden, die alle kaum noch Zähne im Mund und noch weniger Geld in der Tasche hatten, dafür aber umso größeren Bierdurst. Obwohl Großvater weder rauchte noch trank, war er Stammgast in diesem nach Bier und Urin stinkenden Lokal, in dem die Gäste sich durch die Wolken von Tabakqualm kaum erkennen konnten und nichts anderes im Sinn hatten, als die Zeit totzuschlagen. Man brauchte kein Enthaltsamkeitsapostel zu sein, um in diesem Spelunkenmilieu Schüttelfrost zu bekommen. Aber Der eierlegende Hahn war der Mittelpunkt in Großvaters Dasein. Die Tage, an denen die Kneipe geschlossen war – der Erste Mai, der Tag der Russischen Revolution und Heiligabend –, waren für Großvater eine Strafe.
Ich kann mich kaum erinnern, dass Großvater jemals mit meinem Großonkel ein Gespräch geführt hätte.
Aber jetzt sagte er mit beinahe heiterer Stimme: »Fernando, du ahnst gar nicht, wie sehr ich dich beneide. Seit über vierzig Jahren lebe ich mit dieser vorurteilsbeladenen und tauben Frau zusammen, die nie zuhört, wenn ein anderer etwas zu sagen hat. Es ist, gelinde gesagt, anstrengend gewesen. Ich beneide dich, weil du ein freier und glücklicher Mann bist.«
Dann machte er auf dem Absatz kehrt und verschwand. Ein kaum merkbares Lächeln trat auf die Lippen meines Großonkels, und ich glaube, dass er murmelte: »Er beneidet mich, weil ich frei bin. Puuh. Frei ist nur, wer nichts begehrt.«
»Liebe Kinder«, sagte er dann. »Versucht nicht, alles mit dem Kopf zu verstehen. Verlasst euch auf euer Gefühl, das zeigt euch den rechten Weg. Denkt vor allem immer an eins: Was ihr auch tut im Leben, euer Handeln sollte ein gewisses Maß an Unvernunft beinhalten, sonst lauft ihr Gefahr, eure Menschlichkeit zu verlieren. Aber jetzt tut ihr am besten, was Großmutter euch gesagt hat, und geht spielen.«
DAS MYSTERIUM DER KABBALA
Wenn Sasha gelegentlich zugab, sich nicht genau daran zu erinnern, was die Kabbala war, wiederholte mein Großonkel voller Güte und Geduld seine Erklärung Wort für Wort.
»Die Kabbala ist die mystische Lehre der Juden.« Mit dieser Sentenz leitete er seine Darlegung stets ein. Er sprach die Worte langsam und feierlich aus. Dann wiederholte er den Satz, damit wir ihn uns einprägten, und fuhr in gedämpftem Ton, beinahe flüsternd, fort: »Die Kabbala kann man auch als eine Art Chiffrierung oder Geheimschrift bezeichnen. Diese hat den Sinn, die wahre Weisheit vor
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