Das Elixier der Unsterblichkeit
bescheren. Der Junge hat besondere Verstandesgaben. Ich sehe die Klarheit des Gedankens in seinen dunklen Augen leuchten. Du musst ihm einen Namen geben, der die besondere Weisheit symbolisiert, die sein Erbteil ist.«
»Verehrter Sultan«, sagte Chaim und kniete vor Muhammed II. nieder, »meinen Sohn, der in Eurem Palast gezeugt und geboren ist, liebe ich wie mein eigenes Leben. Sein Name soll Moishe sein.«
DER WASSER UND FEUER VEREINT
Wenn ich mich nicht irre, war ich zwölf Jahre alt, als mein Großonkel uns bei einer seiner Auslegungen über schwer begreifbare Mysterien von der Symbolik in dem Namen erzählte, den Chaim de Espinosa seinem neugeborenen Sohn, den wir den Kabbalisten nannten, gegeben hatte.
Es war Sommer. Mein Großonkel hatte mit uns zu Mittag gegessen. Kartoffelsuppe mit Klößen. Sasha und ich hassten dieses Gericht und hätten es am liebsten still und heimlich wieder ausgespuckt. Aber wir mussten stets aufessen, was auf den Teller kam. Nahrungsmittel waren immer noch Mangelware.
Großmutter ging ins Treppenhaus, um mit der allwissenden Hausmeisterin den letzten Klatsch auszutauschen.
Wir blieben in der Küche sitzen. Ich sehe noch vor mir, wie mein Großonkel sich den Schweiß von der Stirn wischte und irritiert die lästigen Fliegen wegwedelte, die ihm um den Kopf summten. Er redete wie üblich von unseren Vorfahren und ihren faszinierenden Schicksalen.
Indem er das Seltsame natürlich und das Natürliche seltsam darstellte, das Hässliche verschönte und den flüchtigen Augenblick verewigte, lehrte mein Großonkel uns früh, dass es auch in den schlimmsten Situationen Hoffnung gibt und dass das Leben immer lebenswert ist, wenn auch nur deshalb, weil es so schmerzlich kurz ist. Er schuf für uns ein paralleles Universum, das von Leidenschaft und Mysterien erfüllt war, um uns vor dem Wahnsinn der Wirklichkeit und den unendlichen Möglichkeiten der Niederlage zu schützen.
Unsere Kindheit war ein auf die Vergangenheit gerichtetes Fenster. Da saßen wir fast immer. Wir brauchten die Gegenwart nicht, das Gestern war ein verzauberter Ort, und es nahm nie ein Ende. Wir erkannten uns in den Geschichten meines Großonkels. Es waren schon vor uns Generationen da gewesen. Komplizierter war es nicht. Es gab ein Muster, das in unserer DNA niedergelegt war, und eine unsichtbare Kraft trieb uns an, den Schlüssel der Kombination zu suchen. Wir fanden das gleiche Muster bei unseren Vorfahren. Heute, wo es aufs Ende zugeht, entdecke ich es auch bei mir selbst.
»Franci«, sagte Großmutter, als sie in die Küche zurückkam, »quäl die Kinder nicht wieder mit diesem Kram. Sie werden heute Abend nicht einschlafen können. Geht raus und spielt, ihr Schlingel!«
»Aber Sara«, protestierte mein Großonkel sanft, »was stört es dich, wenn die Kinder sich ein bisschen amüsieren?«
»Es stört mich ganz erheblich«, antwortete Großmutter. »Intelligente Jungen sollten sich mit etwas Vernünftigem beschäftigen und nicht auf Spukgeschichten und Räuberpistolen hören. Was du da tust, ist sündhaft und schändlich. Begreifst du nicht, dass die Jungen ganz wirr im Kopf werden, wenn sie nur hier drinnen sitzen und sich deine Phantasien anhören? Ich habe dich schon einmal gewarnt. Erst waren es Kometen und Moses Prophezeiungen, dann wahrsagende Gespenster, und jetzt sind es mystische Lehren. Aber alles hat seine Grenze. Wo soll das noch enden?«
Dann sagte sie ein paar Sätze auf Deutsch, die wir nicht verstanden, die aber anscheinend nicht dazu angetan waren, Fernando zu schmeicheln. Er sah beherrscht aus, aber sein Adamsapfel hüpfte nervös auf und ab. Keiner von uns wagte, etwas zu sagen.
Wir Kinder fanden es lustig, Großmutter zum Narren zu halten, denn es gab nichts Schöneres, als wenn mein Großonkel uns verborgene Räume in der Geschichte öffnete. Sasha und ich taten, als gingen wir hinaus auf den Hof, um zu spielen, doch stattdessen setzten wir uns mit Fernando heimlich ins Schlafzimmer. Er fragte mit gedämpfter Stimme, ob wir schon einmal von Moishe de Espinosa gehört hätten, der das Buch vom Strahlenglanz (
Sefer ha-Zohar
) verfasst hatte, das bedeutendste kabbalistische Werk. Sasha schüttelte den Kopf. Ich antwortete: »Ja.« Teils weil ich fürchtete, mein Großonkel, der zehntausendmal intelligenter war als ich und über Einsichten in tiefe Wahrheiten verfügte, die ich nicht begreifen konnte, würde mich für einen Dummkopf halten. Teils – und vor allem – weil es mir schon als
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