Das Elixier der Unsterblichkeit
will ich wiedergeben, was ich in den Geschichtsbüchern über Muhammed al Faqih, den zweiten Sultan der Nasriden-Dynastie, gefunden habe.
Muhammed II. wird als ein für seine Zeit ungewöhnlich aufgeklärter Herrscher beschrieben, dessen Ruf weit über die Iberische Halbinsel hinausreichte. Er besaß uneingeschränkte Macht, gebrauchte sie aber nie willkürlich. »Mein erster Tag von Eigenmächtigkeit wird mein letzter Tag als Sultan von Granada sein«, sagte er in der Rede, die er bei seiner Thronbesteigung hielt. In den folgenden Jahren regierte er sein Reich gerecht, ohne jemals einen lauten Ton anzuschlagen, ohne in Erregung zu geraten. Er wurde gefürchtet und respektiert. Er forderte Pflichterfüllung von jedem einzelnen, akzeptierte bei seinen Männern keine Schwächen und strafte sie hart, wenn sie seine Gesetze nicht befolgten. Zog er in den Krieg, versuchte er immer, brutale Wut und Grausamkeiten zu dämpfen, und nie tötete er einen besiegten Feind. Er besaß eine reich ausgestattete Persönlichkeit und war ein beispielhafter Mann von legendärer Tapferkeit und Klugheit. Schon zu seinen Lebzeiten sangen die Menschen Lieder über seine Gerechtigkeit, mit der er so viele Herzen gewann.
Obwohl der Sultan sich nicht alt fühlte und noch die Entschlusskraft und Stärke besaß, die erforderlich waren, um das Reich zu regieren, ertappte er sich zuweilen bei dem Gedanken, dass ein Vater, den Altersbeschwerden und nachlassende Gesundheit niederzudrücken beginnen, seinen Platz, die Reichtümer und die Macht seinem Sohn übertragen sollte. Als er eines Tages die Namen zweier seiner engsten politischen Ratgeber verwechselte, begann er darüber nachzudenken, welcher von seinen drei Söhnen – Faraj, Muhammed oder Nasir, der eine christliche Mutter hatte – am geeignetsten war, sein Nachfolger zu werden.
Bei den Mauren war es traditionsgemäß der älteste Sohn, und der Sultan hätte gern an diesem Brauch festgehalten. Aber er war auch der entschiedenen Auffassung, dass nichts über die Interessen des Reiches ginge, und um des gemeinsamen Besten willen war er bereit, von der uralten Tradition abzuweichen.
DER ÄLTESTE SOHN
Der älteste Sohn des Sultans hieß Faraj. Als Kind war er unsicher, kränklich und von seiner Mutter überbeschützt und verwöhnt worden. Er sprach wenig und zog sich in sich selbst zurück, weshalb viele in der Alhambra meinten, er sei einfältig und zurückgeblieben.
Dem Sultan war klar, dass sein Erstgeborener in Bezug auf Stärke, Appetit, Selbstsicherheit und Redegewandtheit kein Nasride war. Aber er tröstete sich mit dem Gedanken, dass man nie vorhersehen kann, wie Lebewesen sich entwickeln und verhalten.
Faraj heiratete in jungen Jahren, was sein Wesen grundlegend veränderte. Er wurde selbstsicher, extrovertiert, geradezu vorlaut. Mit der Zeit legte er die unglückliche Neigung an den Tag, seine Zunge nicht im Zaum halten zu können. Sein monotones Geplapper und seine lakonischen Scherze waren jedoch für die meisten Zuhörer von begrenztem Interesse.
Eines Tages gab Faraj bei einem Familienessen, um zur Unterhaltung beizutragen, diverse politische Gedanken preis, die er diskutieren wollte. Er war gerade sechsundzwanzig Jahre alt geworden. Das neue Jahrhundert war angebrochen. Faraj konzentrierte sich, damit seine Worte so exakt wie möglich ausdrückten, was er bis dahin nicht auszusprechen gewagt hatte. Bebend hob er an, Kritik am Sultan zu üben, und schlug ungefragt vor, einen sich anbahnenden Konflikt mit dem rivalisierenden Clan Ashqilula gewaltsam zu lösen. Es ging um eine umstrittene Grenze im Süden. Faraj ließ es nicht damit genug sein, einen Angriff zu empfehlen, sondern er riet dem Vater darüber hinaus, den Truppen zu erlauben, das Volk von Ashqilula zu plündern und die Frauen zu vergewaltigen. Er war der entschiedenen Meinung, dies werde die Moral der maurischen Soldaten heben.
Der Sultan sah sich gezwungen, Faraj Einhalt zu gebieten und ihn zurechtzuweisen. »Faraj«, sagte er in strengem Ton, »komplizierte politische Fragen können dem weniger Scharfsichtigen den Blick trüben. Ein kluger Mann dagegen weiß und akzeptiert in Demut, dass es dem Sultan vorbehalten ist, wichtige Beschlüsse zu fassen. Ich muss dich daran erinnern, dass dein Benehmen gegen unsere Sitten und Gebräuche verstößt. Ich toleriere nicht, dass irgendjemand, auch du nicht, diese erlesene Mahlzeit mit Diskussionen über Angelegenheiten stört, die ihr nicht zu begreifen
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