Das Ende Der Ausreden
Trotzdem kommt es oft zu Missverständnissen. In sogenannten interkulturellen Trainings versucht man, Menschen, die in andere Kulturen gehen, um dort zu arbeiten und zu leben, auf Mentalitäts- und Verhaltensunterschiede vorzubereiten, um zu verhindern, dass sie die anderen für Hinterwäldler halten oder mit ihren eigenen Gepflogenheiten Geschmack, Sitte und Feingefühl der Gastgeber verletzen.
Nichts charakterisiert einen Menschen besser als das, was ihm selbstverständlich erscheint.
Kurt Tucholsky
Es gibt eine fabelhafte Übung, bei der man unglaublich viel in kurzer Zeit lernt. Und zwar nicht nur für Fernreisen, sondern generell für die Begegnung mit anderen Kulturen, etwa in der eigenen Firma: mit den sonderbaren anderen aus der Buchhaltung (Krümelmonster), dem Archiv (Staubschlucker), dem Außendienst (Spesenritter) oder der Abteilung Forschung und Entwicklung (kreative Spinner).
Eine Gruppe wird in mehrere kleinere Teams aufgeteilt, die dann jeweils an separaten Tischen für ein Kartenspiel instruiert werden. Was die Teilnehmer nicht wissen: An jedem Tisch sind die Regeln für das Kartenspiel ein wenig unterschiedlich.
Das Spiel wird eröffnet, an allen Tischen wird friedlich und mit Spaß gespielt. Nach einer gewissen Zeit wird kurz unterbrochen, und jeweils ein Teilnehmer einer Runde wird gebeten, an einen anderen Tisch zu wechseln. Das Spiel geht weiter. An allen Tischen entsteht früher oder später Irritation. Aus Sicht der Stammbesatzung spielt der Neue sonderbar. Aus Sicht des Neuen spielen die, zu denen er hinzugekommen ist, merkwürdig. Nicht selten brechen Konflikte aus, es wird gestritten, und man bezichtigt sich wechselseitig des Schummelns, des Falschspiels. Und – ein wichtiger Punkt – man findet sich gegenseitig nicht sympathisch.
Das Interessante an diesem Experiment ist, dass so gut wie nie(!) jemand auf die Idee kommt, dass die Differenzen in der Spielweise auf unterschiedliche Regeln zurückzuführen wären oder wenigstens auf ein unterschiedliches Verständnis der Regeln. Das wäre mit ein, zwei Fragen relativ einfach zu ermitteln. Aber es passiert nicht.
Was geschieht, ist vielmehr ein reflexhaftes Verdächtigen und Abwerten desjenigen, der anders spielt, als man es selbst für richtig hält. Genauer: wie es richtig ist .
Hier befinden wir uns im Irrtum. Den wir aber nicht als Irrtum erkennen.
»Das macht man nicht!« – ein Denktabu
Das, was uns selbstverständlich ist, entzieht sich der Reflexion. Wir erkennen es daher nicht als etwas, das zu uns persönlich gehört und uns auszeichnet, sondern wir halten es für allgemeingültig.
Eine Frau fragt ihre beste Freundin um Rat, als sie über der Einladungsliste für einen runden Geburtstag sitzt. »Ich habe eigentlich keine Lust, meine Schwägerin einzuladen«, sagt sie, »wir haben kein richtiges Verhältnis zueinander, wir haben uns nichts zu sagen, was soll das also?« Die Freundin findet: »Das kannst du nicht machen. Damit stößt du sie und die ganze Familie vor den Kopf. Das geht nicht!«
Natürlich ist der Einladenden bewusst, dass sie die Schwägerin brüskieren würde. Deshalb hat sie ja das Thema überhaupt angeschnitten: um zu prüfen, ob sie den Eklat provozieren will oder nicht. Die Antwort ihrer Freundin zieht diese Möglichkeit aber gar nicht in Betracht.
Die Freundin hat aus ihrer Sicht nicht etwa eine Meinung – nämlich ihre eigene – geäußert, sondern eine Selbstverständlichkeit. Sie spricht nicht davon, dass sie persönlich ein solches Verhalten (Schwägerin nicht einladen) ablehnt, sondern es ist ein pauschales »no go«.
Selbstverständlichkeiten kommen meist als »Das macht man nicht!« oder als »Das muss man so machen!« daher. »Man« ist die erste Person Singular und Plural. Da gibt es keine zu prüfenden Alternativen.
Es geht hier nicht um die Frage, ob man Schwägerinnen ein- oder ausladen soll. Sondern darum, ob wir über die verschiedenen Optionen frei nachdenken können, oder ob das mit einem Denktabu belegt ist. Verantwortung – Sie erinnern sich – beginnt mit dem Bewusstsein der Wahlfreiheit und damit, dass wir unsere Wahl in Kenntnis und Würdigung der Alternativen treffen. In dem Moment, in dem wir bestreiten, dass es Alternativen gibt, obwohl es sie gibt, gehen wir aus der Verantwortung.
Nehmen wir an, die Frau hätte eine andere Freundin gefragt. »Deine Schwägerin? Gar keine Frage! Die hat sich doch erst neulich wieder so erstklassig blöd benommen, das wäre genau die
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