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Das Ende Der Ausreden

Titel: Das Ende Der Ausreden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Roser
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Das riecht nach Blumenwiese, Baumhaus und Waldboden, Pfeilen aus Holunderzweigen, Grießbrei und Himbeersirup, Brausepulver und Kakao. Das ist Geborgenheit, Unbeschwertheit, jede Menge Liebe, auf dem Schoß kuscheln, Engelchen flieg spielen, mit dem Schlitten fahren, auf das Glöckchen vom Christkind warten.
    Glücklicherweise haben wir alle solche Erinnerungen. Allerdings nicht nur. Die Verklärung der Kindertage überdeckt, dass Kindsein meist nicht nur kinderleicht war. Und sie verhindert, dass wir verstehen, wie uns die Welt als Kind wirklich vorgekommen ist, wie wir uns darin gefühlt und welche Schlussfolgerungen wir daraus gezogen haben.
    Gerade bei dramatischen Kindheitserlebnissen findet oft eine rückwärtige Verharmlosung statt. Mit dicken Schichten von Rationalisierungen (»Dann müssten doch alle Nachkriegskinder einen Schaden haben, Prügel waren doch normal«) wird die Brisanz der Erinnerung vertuscht. Erst wenn die Leugnung aufhört, kann Tauwetter einsetzen. Mitleid mit dem Kind zu haben, das man einmal war, schwächt nicht, im Gegenteil: Es können daraus Tatkraft und Energie wachsen.
    In der Biografieübung lernen Menschen einander – und sich selbst – auf eine ganz besondere Art und Weise kennen. Es ist eine große Pause vom (Arbeits-)Alltag, in dem wir uns überwiegend auf mehr oder weniger distanzierte Weise begegnen. Da halten wir uns auf mindestens Armlänge, verbergen uns hinter gut polierten Fassaden. Wir nennen es Gespräch, darin akzeptiere ich deine Floskeln und Du stellst meine auch nicht infrage. »Wie geht es Ihnen?« oder die positiv verschärfte Variante »Geht es Ihnen gut?« – als ob da irgendwer eine ernst gemeinte Frage stellen würde. Die Spielregeln sind klar, darauf versetzt man ein freundlich knappes »Super!«. Wir verstehen uns.
    Eine Gruppe, die zwei Tage damit verbracht hat, voll konzentriert und mitfühlend ganz unterschiedlichen Lebensläufen zuzuhören, ist hinterher nicht mehr dieselbe. Da haben Floskeln keinen Raum. Da ist Stille respektierter und erwünschter Teil des Gespräches. Dieselbe Stille, die im Alltag oft gemieden wird wie ein gefährlicher Infekt. Und alle spüren, dass sowohl das Erzählen als auch das Zuhören, dieses Miteinanderteilen der Lebensgeschichten, etwas sehr Besonderes ist. Es ist eine heilsame und für viele befreiende Erfahrung.
    Große Worte? Mag sein. Es ist auch eine große Erfahrung.
    Als Zuhörer lernt man, dass unter jedem Dach ein Ach wohnt oder gewohnt hat. Man ist beeindruckt von der Kraft und Fähigkeit von Menschen, auch aus den schwierigsten Anfängen gute und erfolgreiche Wege zu finden. Und erlebt schmerzhaft mit, wie sich Dinge wiederholen, fast unerträglich wiederholen, ehe eine Variation möglich wird, wenn sie möglich ist. Der Bogen wird gespannt, manchmal reißt er. Wir halten den Atem an. Manchmal spürt man die Freiheit, die der Erzähler sich erkämpft hat, den Humor, die Gelassenheit, die Warmherzigkeit. Manchmal ist noch ganz präsent, wie die Anfänge die Gegenwart unerbittlich im Griff haben. Eine Frau erzählt, wie ihre Mutter sie gewarnt habe, ihr Herz zu vergeben und sich dadurch abhängig zu machen. Und noch nach der dritten Scheidung trägt sie dieses Tabu in sich. Es ist ungebrochen.
    Im Aufspüren von Wiederholungen und fataler Aufträge liegt das inhaltliche Potenzial der Übung. Welche familiäre Konstellation stelle ich selbst gerade wieder her, obwohl ich in ihr nicht glücklich war? Habe ich mir beruflich eine Situation gesucht, die ich kenne und die schon damals nicht gut für mich war? Was müsste ich endlich verzeihen? Welche tiefe Sehnsucht habe ich aus meinen Kindertagen mitgenommen? Und: Welche Warnung kann mir mein bisheriges Leben zurufen, um mich davor zu bewahren, in die falsche Richtung zu gehen?
    Als Erzählender erlebt man zunächst die Nervosität, bevor man beginnt. Jeder ist nervös. Man soll aus der Deckung kommen, sich zeigen. Keine Hochglanzbroschüre meiner selbst präsentieren, sondern einfach davon sprechen, wie mein Leben bisher verlaufen ist. Und das fühlt sich – für die meisten – wie ein hohes Risiko an. »Das würde ich nie machen!«, diese spontane Reaktion habe ich oft gehört.

Geschenktes Vertrauen wird immer gewürdigt
    Natürlich überlegen alle, wie viel Wahrheit sie wirklich riskieren wollen. Wie viel sie lieber weglassen, entschärfen, glätten und frisieren wollen. Denn wen geht das eigentlich etwas an, wie es wirklich war? Und was bringt das, es zu

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