Das Ende Der Ausreden
der empfundenen Scham, nicht willkommen und daher ja offenbar nicht »richtig« zu sein, Schritt für Schritt zu befreien. Und sie konnte es so ihren eigenen Kindern ersparen, das Unglück weiterzugeben, in dem sie beinahe ertrunken wäre.
Das Abwerfen der Scham ist kein leichter Weg. Denn was ich als Kind immer wieder gehört habe, das speichere ich nach und nach als absolut ab. Wenn mir immer wieder gesagt wurde, wie wichtig es ist, alles richtig zu machen (»Gut ist nicht gut genug!«, »Das Bessere ist der Feind des Guten«), dann wird daraus irgendwann mal eine Überzeugung, die in etwa heißt: »Ich darf keine Fehler machen.« Sie geht einher mit der Angst, nicht zu genügen und dafür verurteilt zu werden.
Einschub für besorgte Eltern: Was mein Kind als Wirklichkeit erlebt, welche Botschaften es aufnimmt und als Kernbotschaften begreift, das habe ich nicht in der Hand. Welche Schlüsse die Kinder aus unserem Verhalten und unseren Sprüchen ziehen, ist sehr viel unvorhersehbarer, als uns das vielleicht lieb ist. Andererseits ist es entlastend zu wissen, dass wir die Erkenntnisse unserer Kinder nur begrenzt steuern können. Nehmen wir es dennoch als eine Einladung, auf das zu achten, was wir sagen. Den einen oder anderen Satz noch einmal auf Tauglichkeit überprüfen, ehe wir ihn absenden, das wäre schon etwas.
Aber zurück zu dem Kind, das sich seinen Reim auf die unwirsche Reaktion der Mutter gemacht und es in eine Regel übersetzt hat. Keine Fehler zu machen, ist keine leichte Sache. Da sitzt auf der Kinderzeichnung der Schornstein schief auf dem Dach. Sehr schlecht, ein Fehler. Da hat man mit dem Ketchup gekleckert, noch ein Fehler. Da ist die Deutscharbeit schwächer ausgefallen als gewohnt, nicht gut. Aber das Kind arbeitet daran. An der korrekten Wiedergabe der Dinge, dem ordentlichen Essverhalten und den guten Noten. Denn schließlich ist das seine Eintrittskarte ins Liebeland.
Je länger wir nach den Regeln leben, umso eherner werden sie. Welche Anstrengung, immer auf der Hut vor dem Fehler zu sein! Es frisst so viel Leichtigkeit und Energie auf. Freiwillig hätten wir uns dies Konzept nicht ausgesucht. Auch wenn es schon längst keinen mehr gibt, der die Stirn runzelt, wenn wir ein Wort falsch aussprechen, haben wir es uns vielleicht längst angewöhnt, dies mit anderen und uns selbst zu tun. Und es könnte sein, dass wir sogar die Rechtschreibfehler in Büchern korrigieren.
Überkommene Regeln brechen, um selbst zu entscheiden
Wenn wir erst einmal entdeckt haben, dass und wie wir uns mittlerweile selbst mit diesen Sätzen traktieren, können wir unsere Begleiter von damals freundlich in den Ruhestand schicken. Und aufatmen. Heute können wir unseren inneren Text selbst bestimmen. Und damit vielleicht auch segensreich mit einer Familientradition brechen.
Eine Kinder- und Jugendpsychologin hatte bei dem zehnjährigen Jan eine bisher übersehene Leseschwäche diagnostiziert, und damit wurde plötzlich klar, warum er sich in einigen schulischen Fächern so schwertat. Er hatte in den letzten Monaten viele Misserfolgserlebnisse ertragen müssen, er würde nicht versetzt werden, und es stand sogar infrage, ob er auf der Schule würde bleiben können. Seinen Kummer und sein Gefühl, auf der Verliererseite zu stehen, behielt er weitgehend für sich. Die Psychologin erzählte den Eltern, dass er auch ihr gegenüber zuerst den kleinen Coolen gegeben habe. Ihr sei klar gewesen, dass es ihn zusätzlich belasten musste, sich so zusammenzureißen. Irgendwann habe er dann gesagt: »Na ja, Männer zeigen doch keine Gefühle.« Den Eltern war zunächst unverständlich, woher Jan diese Auffassung hatte, beide waren sich sicher, so etwas nie gesagt zu haben.
Allerdings gibt es in Jans Umfeld verschiedene Modelle dafür, wie man negative Gefühle unterdrückt. Seine Mutter Sophie ist eigentlich nie schlecht gelaunt, egal, was passiert, sie kann allem eine positive Seite abgewinnen, von eigenen Schwierigkeiten – wenn es einmal welche gibt – erzählt sie immer erst dann, wenn sie vorüber sind, bis dahin beißt sie sich allein durch und hält sich mit einem sprühenden Zweckoptimismus selbst handlungsfähig. Sie selbst wiederum ist groß geworden mit einer Mutter, die nach der Devise »Nur die Harten kommen in den Garten« durchs Leben gegangen ist – einer zupackenden, resoluten Geschäftsfrau, die keine Zeit für Sentimentalitäten hatte. Sophie hält es für möglich, dass Jan den Satz von ihrem Bruder,
Weitere Kostenlose Bücher