Das Ende Der Ausreden
und im besten Fall
Was das Enneagramm für mich in so besonderer Weise attraktiv macht, ist das, was es von anderen Typologien unterscheidet: Es ist ein Entwicklungsmodell, eine dynamische Typologie. Es beschreibt, wie wir uns auf der Grundlage eines spezifischen Typus entwickeln können, im Guten und im weniger Erfreulichen. Wie unser Weg aussehen könnte, wenn wir in Selbsterkenntnis und ihre Konsequenzen investieren. In der Sprache des Enneagramms geht es um Reife und Erlösung . Aber auch: Wie wir uns wahrscheinlich entwickeln werden, wenn wir einfach so weitermachen wie bisher, ohne innezuhalten. Das Enneagramm findet dafür eine sehr heftige Vokabel, es spricht von der Apokalypse .
Es geht um die Frage, was am Ende unseres Lebens aufgedeckt wird, und das Leben ist der Weg dahin. Wie werden wir sein, wenn wir alt sind? Weise oder verbittert, gelassen oder enttäuscht? Wenn wir in der Lebensmitte keine Kurskorrektur vornehmen, dann landen wir im Alter sehr wahrscheinlich in einer wenig attraktiven Form unserer Selbst, werden wir zu jener Sorte Menschen, die von ihren Angehörigen mit Nachsicht und Resignation (»Ach, lass ihn doch!«) behandelt und somit letztlich aus dem wirklichen Leben ausgeschlossen werden. Das ist mit Apokalypse gemeint: dass ich am Ende meines Lebens vielleicht genau so werde, wie ich es nie wollte, und einem Schmerz wiederbegegne, von dem ich dachte, ihm entronnen zu sein.
Als ich das erste Mal las, wie sich die verschiedenen Typen – so auch meiner – im Alter negativ entwickeln (man sagt auch: eskalieren) können, war ich schockiert. Davon, dass mir diese Zerrbilder entschieden unsympathisch und furchtbar vorkamen. Und noch mehr davon, dass ich es sofort plausibel fand, dass es so, auch für mich, kommen könnte. Ich las das in einer Phase meines Lebens, in der ich keinesfalls depressiv vernebelt auf Hinweise auf eine düstere Zukunft wartete. Es ging mir blendend, beruflich wie privat, ich war überraschend erfolgreich und freute mich ausgiebig darüber. Dennoch konnte ich mir erstaunlicherweise gut vorstellen, dass ich im ungünstigen Fall eine solche engstirnige, nervige, alte Frau werden könnte.
Dieser leichte, aber nachhaltige Schrecken überkommt viele Menschen, wenn sie beginnen, sich mit der Altersprognose im Enneagramm zu befassen. Sie erkennen relevante Personen ihrer Familie wieder, sehen ihre alternde, unzufriedene Mutter oder den in den letzten Lebensjahrzehnten verbohrt gewordenen Vater vor sich auftauchen.
Anklänge dieser Apokalypse kennen wir alle aus Situationen unseres Lebens, wenn der Stress überhand genommen hat und wir uns mit den normalen Strategien nicht mehr zu helfen wissen. Dann werden friedfertige Dulder plötzlich herrisch und selbstgerecht, werden aktive Macher unerwartet zweifelnd und gelähmt. Für Momente, Stunden oder Tage sind wir nicht mehr wir selbst. Ehe wir wieder zur alten Form zurückfinden. Das könnte ein Vorgeschmack sein.
Umgekehrt beschreibt das Enneagramm das Prinzip Hoffnung, was unsere Entwicklung betrifft. Es entwirft eine Zukunft, die auf uns warten könnte, wenn wir uns diese bewusst aneignen und Schritt für Schritt Neues wagen. Auch dieses Bild ist nachvollziehbar und merkwürdig vertraut. In unseren besten Momenten, wenn wir uns ganz leicht und im Einklang mit uns selbst fühlen, dann kennen wir uns bereits so. Dann ist die Pingeligkeit, mit der man sonst auf jeden Fehler schauen muss, einer heiteren Gelassenheit gewichen, dann schweigen die Selbstzweifel, können wir unsere Alltagsmaske, hinter der wir sie verstecken, lüften, und unser Herz schlägt ruhig und kraftvoll.
Die Entwicklungslogik, die das Enneagramm beschreibt, macht klar, warum wir nicht von selbst weise werden. Ein Alter, so wie wir es uns wünschen, scheinen wir nur mit Erkennen und Umkehr bewerkstelligen zu können. Falls Sie wie ich beabsichtigen, eine nette, liebenswerte alte Dame oder ein sympathischer, interessanter alter Herr zu werden, gibt es dazu wohl keine Alternative.
Die Entwicklung zur Reife, zur Heiterkeit und Souveränität ist eine bewusste Entscheidung, die ich als erwachsener Mensch treffe. Und sie ist zugleich eine Rückkehr. Oder eine Wiederentdeckung. Denn eines der besonders schönen Angebote, die das Enneagramm – und natürlich nicht nur das Enneagramm – uns macht, ist die Idee, dass unser Selbst unverwundbar und unzerstörbar ist. Unter wie vielen Schichten auch immer verborgen, existiert damit völlig heil und unbeschadet
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