Das Ende Der Ausreden
Einen Unterschied machen zwischen unseren Denk-, Fühl- und Handlungsgewohnheiten – und uns selbst. Zu wissen, dass wir ein Dynamiker, Beobachter oder Loyaler sind, ist nicht das Ende der Erkenntnis, sondern der Anfang. Wir sollten es uns gar nicht erst gemütlich machen mit dem neuen Wissen. Sonst wird da flugs ein neue Ausredenfiliale eröffnet, Ableger des Hauptgeschäfts »Ich bin eben so«. Dann kokettieren wir weiter, nur mit anderen Vokabeln.
Jeder der neun Typen oder Muster im Enneagramm ist ein Ego-System. Und wenn wir uns mit der (ungeduldigen/friedfertigen /peniblen …) Natur dieses Egos identifizieren, sind wir ihm auf den Leim gegangen. Was wir brauchen, ist die Unterscheidung. Zwischen dem Ego auf der einen und uns und unseren Möglichkeiten auf der anderen Seite.
Wie soll das gehen? Was soll das heißen: »Das bin nicht ich?« Wer soll ich denn sonst sein? Werde ich dann nicht schizophren?
Wenn ich in Seminaren an dieser Stelle ankomme, kann ich spüren, wie sich die Raumtemperatur verändert. Bislang sind alle willig mitgegangen. Ich gelte als glaub- und vertrauenswürdige Person, ich erzähle keinen Quatsch, ich stehe nicht im Verdacht, abzuheben oder merkwürdige Ansichten zu vertreten. Aber: Ent-Identifizierung? Manchmal muss ich lachen, wenn Einzelne jetzt große Mühe aufwenden, um höflich interessiert zu wirken und mir keinen Vogel zu zeigen.
Und dann kommt es noch schlimmer. Ich sage nämlich: »Wenn Sie an Ihrer persönlichen Weiterentwicklung interessiert sind, dann bitte ich Sie, ab heute jeden Tag Zeit für Stille einzuplanen.« In dieser Zeit – so erkläre ich, ehe der Sturm der Entrüstung losbricht – machen Sie nichts anderes, als sich selbst freundlich dabei zu beobachten, was Sie denken und empfinden. Und lernen so zu erkennen, wie Ihr Muster funktioniert. Und dann können Sie es nach und nach loslassen.
Wenn wir etwas Wichtiges lernen wollen, dann geht das nur mit täglicher Übung. Jeden Tag. Üben, üben, üben. Nicht nur, wenn man Lust dazu hat. Nein: jeden Tag.
Eben explodiert im Seminar die Gruppe: Wie bitte?? Jeden Tag? Wie lange?
Ich schlage eine Viertelstunde bis zwanzig Minuten vor.
Nichts tun? Wozu, um Himmels willen, soll das gut sein? Dafür hat man wirklich keine Zeit. Wie soll denn Nichtstun etwas bewirken? (Wo doch von nichts nichts kommt …) Es gibt keine Ruhe zu Hause. Wie soll ich das meinem Mann/ meiner Frau/meinen Kindern erklären? Ich hab’s im Kreuz.
Soso.
Dann wird verhandelt: Kann man es auch beim Einschlafen machen? Oder auf dem Heimweg von der Arbeit? Alle drei Tage vielleicht eine halbe Stunde? Oder reichen auch zehn Minuten, wenn man schnell ist? Unter der Dusche?
Wie viel Widerstand dieser Vorschlag augenblicklich auslöst! Man macht sich lustig, reißt Witze, fährt alle Geschütze auf, damit bloß diese Idee vom Tisch kommt. Man will ein gescheites Zehn-Punkte-Programm, einen praktischen Handwerkskasten – und stattdessen diese Zumutung der stillen Selbstbetrachtung?
Was ist eigentlich an Stille und am Nichtstun so bedrohlich? Die meisten Menschen haben keine Angst, drei Stunden einen schwachsinnigen Film anzuschauen, und vergessen auch, die Werbung im Radio abzustellen, die unseren Verstand lautstark und inhaltsleer beleidigt. Aber nichts tun? Das ist irgendwie suspekt. Meditation ist doch was für Blumenkinder oder Bogenschützen. Vielleicht noch für gestresste Topmanager, die sich so etwas – wieder – leisten können. Aber im normalen Leben?
Irgendwann lachen wir dann gemeinsam. Irgendeiner merkt, was gerade passiert, sagt es, und die anderen stimmen zu: Die ganzen vorgeschobenen Argumente kommen aus einem einzigen Grund – die meisten fürchten sich einfach vor dem Nichtstun. Richtigem Nichtstun. Nicht lesen und Musik hören, auf der Bank im Park sitzen und Leute beobachten. Nicht dösen und einschlafen. Nein: wach bleiben und zugleich wirklich innehalten, den Blick und die Aufmerksamkeit nach innen wenden. Sonst nichts. Das ist für viele eine Horrorvorstellung. Und so ineffizient!
Und ich erkannte, dass sie die Stille nötig hatten.
Denn nur in der Stille
kann die Wahrheit eines jeden Früchte ansetzen
und Wurzeln schlagen.
Antoine de Saint-Exupéry
Ein großer Teil unseres Lebens scheint dem Plan gewidmet, Nichtstun und Stille zu vermeiden. Wir machen immer irgendetwas. Stille ist unangenehm, muss gefüllt werden. Dass jemand länger überlegt, bevor er antwortet – wer traut sich schon, diese Zäsur im
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