Das Ende Der Ausreden
dazu führen, dass man ihn für leicht sonderbar hält, für jemanden, der einfach nicht »normal« sein kann. Dann führt die Lösung (»Ich rette mich in die Besonderheit«) über die Zeit genau zurück in jene Situation, aus der sie herausführen sollte: Man nimmt ihn als anders und das wiederum als anstrengend wahr. Und wenn man denjenigen nicht gerade liebt, dann geht einem das Immerzu-besonders-sein-Wollen irgendwann auf den Wecker und man schränkt den Kontakt ein. Und so bestätigt sich aus Sicht des Individualisten immer mehr die Kernerfahrung: dass er am Rand steht.
Von selbst wird er nicht darauf kommen, dass die ursprüngliche Rettung ihm zur Schlinge geworden ist. Sondern er wird die Erfahrung der Ablehnung anders deuten. Als grundsätzliches Defizit seiner selbst oder der Welt, die ihn nicht versteht.
Ein zweites Kind wächst mit dem großen Gebot auf: Wir müssen zusammenhalten, wir dürfen nicht streiten, jeder muss seinen Anteil dazutun, Harmonie geht über alles. Und so lernt das Kind: ausgleichen, vermitteln, zuhören, dabei sein und bleiben. Wenn ein Konflikt auftaucht, wird er klein geredet. Alles halb so schlimm, kein Drama! Sein Wunsch, den anderen Aufregung zu ersparen, erzeugt später scheinbar paradoxerweise genau den Streit, den er vermeiden will. Seine Angewohnheit, jedes Problem zu relativieren, gibt den anderen das Gefühl, nicht ernst genommen zu werden und mit ihren Sorgen allein zu bleiben. Um ihn dazu zu bewegen, Position zu beziehen, eine Entscheidung zu treffen, sich zu engagieren, werden sie emotional. Was ihn zu noch mehr Besonnenheit mahnt. Erneut tritt er den Beweis an, dass doch wirklich alles halb so wild sei. Das macht die anderen schließlich wütend. Was verbinden sollte – trennt am Ende.
Ein drittes Kind erlebt, dass es sich zurücknehmen soll. Und das tut es dann auch. Für die wenig belastbare Mutter, das schwierige Geschwisterkind, das alle Aufmerksamkeit absorbiert, für den Streit der Eltern, den es nicht befeuern will, oder was auch immer es im Einzelnen war. Es lernt, in den Hintergrund zu treten. Das Mädchen wird eine sensible, herzliche und im Inneren unsichere Frau. Sie heiratet einen Mann, der von ihr erwartet, dass er die Nummer eins für alles ist. Sie sorgt für ihn und stellt ihre Wünsche für Jahrzehnte zurück. Das kann sie ja gut. Als er stirbt, realisiert sie: Da kam kein Dank von ihm – kein einziges Mal. Und auch die Kinder enttäuschen sie: Sie sind mit ihrem eigenen Leben befasst und zeigen viel zu wenig Anerkennung für das, was sie ihnen ermöglicht hat. Die Frau wird missgünstig und böse. Je bitterer sie wird, desto mehr geht man ihr aus dem Weg, und umso mehr bestätigt sich ihre Erkenntnis: Die Welt ist undankbar und enthält ihr vor, worauf sie Anspruch hätte …
Ein wieder anderes Kind lernt, dass es immer gut funktionieren, etwas leisten und darstellen muss, damit es nicht abgelehnt wird. Der Jugendliche und Erwachsene hat diese frühe Gebrauchsanweisung fürs Dasein so verinnerlicht, dass er sein ganzes Leben als Erfolgsprojekt plant und lebt. Alles muss super sein und gut aussehen, jeder Misserfolg wird nachträglich zum Erfolg erklärt. Allmählich wundert sich die Umgebung: Wieso muss jeder Irrtum wegdiskutiert werden? Was verbirgt sich hinter der wohlpolierten Fassade zur Schau getragener und an Arroganz grenzender Selbstsicherheit? Am Ende entwickeln die anderen ein Gefühl der Vorsicht: Ist den Erfolgsmeldungen wirklich zu trauen? Man sucht förmlich nach Beweisen, um die Glätte der Selbstdarstellung zu beeinträchtigen, einen Kratzer zu finden. Und wenn es gelingt, dann geschieht es mit einer gewissen Genugtuung. Aha, so toll ist er oder sie also doch nicht … Genau das, was nun als ausgesprochene oder indirekte Botschaft vermittelt wird, entspricht dem Lebenskummer, dem der Mensch entgehen wollte. Hat er es doch gewusst, sobald etwas nicht tadellos funktioniert, nicht fabelhaft aussieht, da ist sie wieder: die Ablehnung.
So wird es uns allen gehen. Das, was uns weite Strecken unseres Lebens geführt und getragen hat, droht, uns nach und nach in eine Falle zu führen.
Und je älter wir werden, desto schwerer wird dann ein Richtungswechsel. Und umso mehr verteidigen wir das Bisherige. Nur: Die Argumente werden dabei nicht besser. Unser Mut, um die Ecke zu denken, nimmt ab statt zu. Die anderen sind es leid, uns den Spiegel vorzuhalten. Ein weiteres Korrektiv fällt aus. Die Abwärtsspirale ist vorbereitet.
17 Und wie
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