Das Ende Der Ausreden
gerne weniger anstrengen. Obwohl er Mitte fünfzig ist, lässt er sich noch immer von Kritik seines Vorgesetzten mehr als nur ärgern, ist er vor Präsentationen viel nervöser, als es seiner Stellung und seinem Standing angemessen wäre. Es stört ihn, dass er empfindlicher ist, als er es jemals zugeben würde.
Ich frage ihn, ob er sich auf ein gedankliches Experiment einlassen mag. Er sagt – skeptisch – Ja.
»Wenn Sie sich vorstellen«, sage ich zu ihm, »dass in Ihnen ein kleiner Junge steckt, der sich fürchtet: Wie würden Sie ihn ermutigen? Wenn Sie sich vorstellen, dieser Kleine stünde jetzt vor Ihnen, es wäre Ihr eigener Sohn oder ein anderes Kind, das Sie wirklich gern mögen: Wie helfen Sie ihm, seine Angst zu überwinden?«
Schweigen.
Was für eine seltsame Frage. Er sträubt sich sichtbar, was hat das mit ihm zu tun? Mit ihm und der anstehenden Präsentation im Aufsichtsrat? Nur, weil er mich kennt und mag, geht er widerwillig einen weiteren Schritt mit. Überlegt und sagt: »Ich sage ihm, dass er sich nicht fürchten müsse, ›Du brauchst keine Angst zu haben‹.«
Hab keine Angst … Das heißt leider für unser Hirn, das nicht »nicht« denken kann: Angst haben. Das ist so wie: Denk nicht an einen blauen Elefanten. Stell ihn dir nicht vor! Schon ist er da, in Lebensgröße, blau und riesig. »Hab keine Angst!« heißt daher in Wirklichkeit: Wenn du Angst hast – verbirg es gut.
Also, was kann den Kleinen denn tatsächlich ermutigen?
Genervt ist der Blick, der mich jetzt trifft. Vielleicht erwägt er kurz, ob irgendwo ein Mikrofon diesen seltsamen Dialog aufzeichnet? Ich frage noch einmal: »Nehmen wir einfach an, der Kleine will es gut machen, und er hat Angst, es nicht gut zu machen, was wird ihm am ehesten helfen?«
»Na ja, ist nicht so schlimm?« – »Ist nicht «, entgegne ich, »ist das Gleiche wie ›Hab keine Angst‹. Nicht schlimm heißt: doch schlimm.«
Ausatmen, einatmen. »Denken Sie daran«, sage ich, »Sie mögen diesen Jungen, Sie mögen ihn wirklich gern. Sie wollen sein Bestes. Was hilft ihm? Wenn er dasteht und Sie mit wundem Blick anschaut und fragt: Was ist, wenn ich es nicht gut mache?«
»Na ja«, sagt er, »ich sage ihm einfach, dass er es gut machen wird!! Dass er gar keinen Grund hat, sich zu fürchten.«
Na super. Ich habe Angst, und mein Vater sagt mir, dass ich keinen Grund habe. Spring jetzt endlich vom Fünf-Meter-Turm, das ist nämlich gar nicht schlimm. Ich habe Angst, und dann sagt mir jemand, dass das unnötig ist. Vorher war ich allein, jetzt bin ich einsam. Wenn du Angst hast, bist du feige, heißt das.
»Das kann nicht sein, dass Sie das dem Jungen sagen wollen«, wende ich ein.
»Vielleicht, wenn ich ihm sage, dass er es versuchen soll. Dass ich an ihn glaube. Dass er sein Bestes geben soll. Und wenn es klappt, wunderbar. Und wenn nicht – auch gut. Ich mag ihn in jedem Fall.«
Ja, das würde ganz sicher helfen. Dann könnte der kleine Kerl mit klopfendem Herz springen. Denn er wüsste sich aufgefangen.
Er nickt.
»Wenn das so ist«, sage ich, »was bedeutet das für Ihren Umgang mit sich selbst?«
Jetzt steigt er aus. Jetzt eben findet er, dass ich spinne. Aber das tue ich nicht.
Man lernt nur von dem, den man liebt.
Eckermann, Gespräche mit Goethe
Wenn Sie sich aufmachen, sich von alten Mustern zu lösen und Neues wagen möchten, dann geht das nur unter einer Bedingung: Sie müssen diesen Weg in Liebe gehen. Ohne einen liebevollen Blick auf Sie selbst wird es nicht funktionieren.
Wir können lernen zu verstehen, dass das, was da in uns rumort, ein weitaus jüngerer Teil unserer selbst ist und dass wir dem nicht mit Vernunft, Durchhalteparolen oder simplen Affirmationen (»Alles wird gut!!«) helfen werden. Im Umgang mit diesem Teil, der oft auch als das innere Kind bezeichnet wird, hilft nur geduldige, freundliche Zuversicht. Liebe eben.
Wir brauchen zwei Dinge: Zum einen die Klarheit, dass das Gefühl, das uns da gerade umtreibt, dem aktuellen Anlass nicht angemessen ist und wir emotional gerade etwa vier oder sieben oder zehn Jahre alt sind. Damals waren wir ganz offensichtlich überfordert, die Gefühle also adäquat. Zum anderen hilft uns das Wissen, dass wir heute als erwachsene Menschen mit der Anforderung (Präsentation im Aufsichtsrat/Konfliktgespräch /einen Herzenswunsch aussprechen) fertig werden können. Und dass das am besten gelingt, indem wir uns dem kindlichen Gefühl nicht überlassen, sondern es freundlich zur
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