Das Ende der Geschichten (German Edition)
denken. Ich wusste, dass es höchstwahrscheinlich nur eine Möwe oder eine Ratte oder vielleicht auch ein Dachs war. Trotzdem wollte ich nicht darüber nachdenken, warum es ausgerechnet an meiner Tür kratzte und nicht an einer anderen.
***
Als ich am Samstagmorgen aufwachte, sang draußen vor dem Fenster aus voller Kehle ein Vogel, den ich nicht kannte. Eine Zeit lang blieb ich liegen und hörte einfach zu. Schließlich stand ich auf, um ihn mir anzuschauen. Doch vor dem Fenster waren nur die gewohnten Dächer zu sehen, über denen die Sonne ihr dünnes, suppentrübes Licht vergoss. Der Vogel zeigte sich nicht, auch wenn ich ihn zu gern gesehen hätte; er klang nämlich, als ahmte er einen Spielautomaten nach: Bing, bing, bing, brrt, brrt, blip, blip, blip, wuu, wuu, bing, bing, bing, blip, blip, ping, ping, ping, brrt, brrt . Und dann gingen die gleichen Töne, oder fast die gleichen, noch einmal von vorne los. Irgendwo hatte ich gelesen – vielleicht hatte es mir auch jemand erzählt –, dass Vögel umso komplexer und schöner singen, je älter sie sind. Der Gesang da draußen war durchaus komplex, aber nicht unbedingt schön. Ob es sich um einen jungen Vogel handelte, der die Möglichkeiten seiner Stimme erforschte, oder vielleicht um einen älteren Vogel in der Midlife-Crisis? Während ich noch am Fenster stand und darüber nachdachte, trat Christopher hinter mich und drückte sich an mich. Die rechte Hand hing kraftlos herab, doch mit der linken streichelte er mir den Oberschenkel. Er roch nach ungewaschenem Haar.
«Komm wieder ins Bett, Babe», sagte er mit morgendlich dumpfer Stimme.
Ich fühlte mich mit einem Mal, als hätte man mir Sand zu essen und Meerwasser zu trinken angeboten.
«Aber, Süßer, was ist denn mit deiner Hand?»
«Der Mensch hat zwei Hände.»
«Ja, schon, aber …»
Seine linke Hand löste sich von meinem Schenkel. «Na gut. Vergiss es.»
Mehrere Minuten vergingen. Der Vogel hatte aufgehört zu singen, und Christopher lag wieder im Bett. Er hatte die Decke über den Kopf gezogen und rührte sich nicht. Im Zimmer war es plötzlich stickig. Vermutlich war es das erste Mal gewesen, dass ich seine erotischen Avancen zurückgewiesen hatte. Aber er war ja schließlich erwachsen, oder? Und er wies mich ständig zurück. Er tat seit sieben Jahren nichts anderes.
«Denkst du dran, dass wir heute Abend bei Libby und Bob eingeladen sind?», fragte ich.
Die Antwort kam dumpf unter der Bettdecke hervor. «Was?»
«Das Abendessen bei Libby und Bob. Ich war mir nicht sicher, ob du das noch weißt.»
«Oh, Scheiße!» Christopher setzte sich auf. «So eine gottverdammte Scheiße!»
«Was fluchst du denn? Ist es wegen der Hand?»
«Nein, nicht wegen der Hand. Ich hab nur einfach keinen Bock, ausgerechnet mit Libby und ihrem blöden Bob glückliche Familie zu spielen, während sie einen anderen vögelt. Außerdem können wir uns das eh nicht leisten, da muss man doch Wein und so was mitbringen. Und ich hab nichts anzuziehen. Kannst du nicht irgendeine Ausrede erfinden?»
«Nein», entgegnete ich, und ein schneidender Ton schlich sich in meine Stimme. «Ich gehe auf jeden Fall hin. Ich wollte nur wissen, was du vorhast. Und ich kann es mir übrigens auch leisten. Außerdem mag ich es nicht, meine Freunde moralisch zu verurteilen. Oder auch meine Familie.»
«Was …» Er fuhr sich mit der zitternden Linken durch das verfilzte Haar. «Was zum Teufel willst du denn damit sagen?»
«Nichts.» Ich verschränkte die Arme vor der Brust und sah zum Fenster hinaus. Der Vogel hatte immer noch nicht wieder zu singen begonnen, und die suppige Sonne war von teigigen Wolken aufgetunkt worden. «Entschuldige. Es ist ein bisschen Geld da, weißt du. Es kam gestern. Ich wollte dich damit überraschen, aber das habe ich wohl irgendwie versaut. Ich dachte mir, wir könnten …»
«Nein, das meinte ich nicht. Was war das mit der Familie und den Freunden?»
Ich seufzte. «Ich bin gestern Milly über den Weg gelaufen.»
«Ach so. Die blöde Kuh. Das wundert mich jetzt gar nicht, dass die hinter alldem steckt.»
«Herrgott, Christopher, so kannst du doch nicht über sie reden. Außerdem steckt niemand hinter irgendetwas.»
«Sie zerstört meine Familie.»
«Falsch. Becca und du, ihr zerstört eure Familie. Josh hat keinerlei Probleme damit. Warum könnt ihr eurem Vater nicht einfach erlauben, glücklich zu sein?»
«Ach so. Jetzt wird alles noch klarer. Es geht darum, wie toll Josh ist.»
«Sei
Weitere Kostenlose Bücher