Das Ende der Geschichten (German Edition)
ging zu Andrew hinüber, um mir einen zu leihen. Ich gönnte mir rasch einen Fischeintopf und ein Pint Beast; anschließend kehrte ich nach Hause zurück, um weiter an meinem Artikel zu arbeiten. Als ich mich gerade mit dem Postsack voller Ratgeber und den neuen Büchern aus dem Dorfladen aufs Sofa gesetzt hatte, vibrierte mein Handy. Libby hatte mir eine SMS geschickt: Fühl mich wie eine der Frauen von Stepford. Wie geht’s Dir? Ich hatte heute dreimal Sex! Jetzt würde ich mich am liebsten erschießen .
Ich legte noch ein kleines Stück Holz auf das Feuer, und eine Zeit lang knisterte es im Kamin, bis eine Art gleichmäßiges Rauschen daraus wurde. Der Wind hatte sich gelegt, und das Meer draußen rauschte ebenfalls. Ich nahm mein Moleskine-Notizbuch zur Hand, und das Geräusch, mit dem mein Füller über das feste Papier sauste, fügte sich nahtlos in das allgemeine Rauschen ein. Ein wahrer Rausch aus Rauschen. Zwei Stunden lang schrieb ich ohne Unterbrechung. Anschließend schaltete ich mein Notebook ein, machte mir noch einen Kaffee und fing an zu tippen, immer noch von Büchern umringt, deren Seiten zunehmend von Post-Its durchsetzt waren. Als der Artikel fertig und das Feuer zur Glut heruntergebrannt war, legte ich mich mit B. auf dem Sofa zum Schlafen zurecht und dachte an das, was ich geschrieben hatte. Ich hoffte, dass Oscar es drucken und Vi es dann lesen würde, und das Feuer bekräftigte meinen Wunsch mit seinem Rauschen und warf seine eigenen schattenhaften Geschichten an die Wand.
***
Ich hatte Vi an einem alkoholseligen Abend im Anschluss an ein Oberseminar kennengelernt, das Frank zu Tschechows Briefen und seiner literarischen Technik hielt. Neben Tony, einem meiner Dozenten, saß eine angenehm verlebt aussehende Frau, die ich nicht kannte. Sie trug lila Jeans, ein Greenpeace-T-Shirt und schwere schwarze Doc Martens, war auf eine Weise sonnengebräunt, wie es in England gar nicht möglich war, und hatte diverse Ketten aus Bindfäden und exotischen Steinen um den Hals. Nach der Sitzung lud Frank alle Teilnehmer noch auf ein Bier ein, doch außer mir kamen nur Tony und die geheimnisvolle Frau mit, die Frank uns nun als «meine bessere Hälfte – Violet Hayes aus der Anthropologie» vorstellte. Tony lachte schallend, als er das hörte, klopfte Frank auf die Schulter und sagte: «Bessere Hälfte? Und dann noch Anthropologin? Ist ja süß!»
Aus dem Bier wurde ein Abendessen bei einem Italiener in einer abgelegenen Seitenstraße, und wir rauchten und tranken Rotwein, als wären wir alle unsterblich. Vi war die einzige von uns, die nicht rauchte, doch dafür leerte sie ihren Rotwein genauso schnell wie wir anderen.
«Manchmal habe ich so ein richtiges Verlangen nach einer Zigarette», gestand sie. «Nur nach einer einzigen.»
Tony lachte. «Tschechow hat doch auch irgendwann mit dem Rauchen aufgehört, oder?», sagte er zu Frank. «Hat er nicht gesagt, es habe ihn aus seiner düsteren, sorgenvollen Stimmung herausgeholt?»
«Genau», antwortete Frank. «Hoffentlich geht es mir auch so, wenn ich mal aufhöre.»
«Hat er nicht gleich nach dem Rauchen auch die Tolstoi-Lektüre aufgegeben?», fragte Vi. «Das habe ich mir gemerkt, weil ich auch einiges aufgegeben habe, nachdem ich mir das Rauchen abgewöhnt hatte. Schlechte Krimis beispielsweise.» Sie grinste. «Tolstoi allerdings nicht.»
«Stimmt», sagte Frank. «Die zwei waren sich dummerweise überhaupt nicht einig über die Grundlagen des Lebens. Tolstoi glaubte an das Spirituelle und Tschechow an das Materielle. In etwa zumindest.» Er sah mich an. «Kennen Sie Tschechows Briefe, Meg?»
«Nein. Zumindest nicht bis heute. Aber jetzt werde ich mir das Buch sofort in der Bibliothek bestellen. Die Briefe klingen toll. Warum hat er denn nun genau aufgehört, Tolstoi zu lesen? Wie kann man damit überhaupt aufhören?» Wir waren in Franks Vorlesung bereits bei Tolstoi, aber noch nicht bei Tschechow angekommen.
«Es war vor allem eine Frage des Klassenbewusstseins», erwiderte Frank. «Tschechow unterscheidet ja bereits in dem Brief, den ich heute zitiert habe, strikt zwischen seiner Art zu schreiben und der Tolstois, wenn er Tolstoi und Turgenjew vorwirft, sie seien in Fragen der Moral zu anspruchsvoll. Eine solche Haltung war Tschechow verhasst, nicht nur, weil er Arzt war. Er stammte aus äußerst ärmlichen Verhältnissen und schrieb hauptsächlich, um damit Geld zu verdienen und seine Familie vor dem Hungertod zu bewahren. Sein ganzes
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