Das Ende der Geschichten (German Edition)
zeigen musste: den Mond. Ich musterte noch einmal den Kartenstapel vor mir und stellte mir vor, dass Vi jetzt sagen würde, die einzig wahrhaft «weibliche» Karte sei der Narr: die Karte der Leere, des Nichts, der ursprünglichen Dunkelheit und des Anbeginns alles anderen.
Im Kaminfeuer knallte es, und B. und ich zuckten beide zusammen. Gleich darauf war von draußen ein Heulen zu hören. Es war der Wind, der um das Haus und zum Kamin hereinwehte. Ich ging in die Küche, um mir eine Mandarine zu holen, aß sie und warf die Schalen ins Feuer. Es zischte leise, dann war wieder alles still.
Das Muster, das ich mir für meine Tarot-Deutung ausgesucht hatte, war ein imaginäres Hexagramm, bei dem die Karten an den sechs Spitzen dieser geometrischen Figur zu liegen kamen. Anfangs glaubte ich, die Karten im Uhrzeigersinn lesen zu müssen, doch dann fand ich heraus, dass sie im Uhrzeigersinn von oben folgendermaßen durchnummeriert wurden: 1, 5, 2, 4, 3, 6. In dieser Reihenfolge steht die erste Karte für das zentrale Thema oder die «alltägliche Welt» des Problems, die zweite für das Problem selbst und die dritte für das, was zu tun ist, um es zu lösen. Die vierte Karte steht für einen bisher unerkannten Bestandteil des zentralen Konflikts, der das Problem unüberwindlich scheinen lässt, die fünfte repräsentiert einen Höhe- oder Wendepunkt und die sechste die Lösung. Das alles sagte ich mir laut vor, während ich die Karten auslegte, und erst als das Muster vor mir lag, wurde mir klar, dass sich diese Übung, ganz gleich, was dabei herauskam, geradezu perfekt für einen meiner Orb-Books-Workshops eignen würde. Das war doch eine Handlungsschablone in Reinkultur. Es gibt ein Problem, und man versucht es zu lösen. Und obwohl das anfangs recht gut funktioniert, enthält das Problem doch ein überraschendes Element, das eine Lösung schwieriger macht als zunächst gedacht. Es folgt ein Moment, in dem alles verloren scheint, die Klimax, doch dann findet sich die Lösung, und das Problem wird überwunden. Wenn ich die Ghostwriter dazu bewegen konnte, ihre Geschichten auf diese Weise mit Hilfe von Tarotkarten zu entwickeln, wäre das sicher eine gute Übung für sie. Trotzdem wurde mir ein wenig mulmig bei der Vorstellung.
In der Reihe von 1 bis 6 deckte ich folgende Karten auf: As der Kelche, Page der Kelche (umgekehrt), Stern, Drei der Stäbe (umgekehrt), Drei der Münzen und Gerechtigkeit (umgekehrt). In meiner Deutung legte das nahe, dass ich mich auf die Suche nach einer großen Wahrheit begeben wollte, einer sehr lohnenden Sache, wie das As der Kelche besagte, aber am Ende nicht bereit war, zu einem abschließenden Urteil zu kommen. Offenbar lehnte ich die Karte der Gerechtigkeit aus irgendeinem Grund ab, weswegen sie auch auf dem Kopf stand. Um diese Nicht-Lösung zu erreichen, benötigte ich Gleichgewicht und konnte keine Unehrlichkeit brauchen. Ich wollte eine Frage stellen, sie aber nicht beantworten. Vielleicht wollte ich ja eine Geschichte ohne Geschichte schreiben. Wie ich das alles in meinen Artikel einbauen sollte, war mir schleierhaft. Doch mit einem Mal wurde mir klar, dass all die esoterischen Ratgeber, die ich als dumm und unangenehm abgetan hatte, gerade deshalb so dumm und unangenehm waren, weil sie dem Narren, der gerade über seinen Felsvorsprung treten wollte, in den Arm fielen, um ihn davon abzuhalten. Sie steckten ihn und seinen Hund in Therapie und dirigierten ihn zurück in die «richtige Welt» mit ihren verschlungenen Wegen, deren Wegweiser nur zu Liebe, Geld und Erfolg führten. Dann klingelte es: Meine Möbel wurden geliefert.
Die Lieferanten trugen das Bett, das man selber zusammenbauen musste, und die Matratze nach oben; die anderen verpackten Möbel deponierten sie im Flur. Es kostete mich eine halbe Stunde, sie alle in den Wohnraum zu schaffen. Dann ging ich nach oben. Die Kartonage mit den Einzelteilen des Bettes war so schwer, dass ich sie nicht einmal anheben konnte. Schließlich öffnete ich sie einfach irgendwo, und circa fünfzig Einzelteile aus hellem Holz ergossen sich auf den Fußboden, zusammen mit einem Beutel, der ungefähr hunderttausend Schrauben und noch weitere Metallteile enthielt, sowie einem Blatt Papier, auf dem ein Bett abgebildet war. Wenn ich noch nicht einmal die Verpackung richtig öffnen konnte, wie sollte ich dann all diese Teile zusammensetzen? Ich versuchte, sie zu sortieren, und vertiefte mich in die Anleitung, doch das brachte alles nichts; ich
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