Das Ende der Geschichten (German Edition)
empfohlen.»
«Was hat Anthropologie denn mit Erzähltheorie zu tun?», wollte Tony wissen. «Und mit … ähm … Mathe ?»
«Ähm … Claude Lévi-Strauss?», erwiderte Vi.
«Ach ja, natürlich.» Tony schüttelte den Kopf. «Und Wladimir Propp wahrscheinlich auch. All diese Folkloristen und Strukturalisten.» Er schaute wieder zu mir. «Waren Sie in meiner Einführungsvorlesung zum Strukturalismus?»
Ich schüttelte den Kopf. «Nicht, dass ich wüsste.»
«Lévi-Strauss war der Ansicht, es müsse möglich sein, sämtliche Geschichten in einer einzigen Gleichung darzustellen», erklärte Vi. «Sein Aufsatz darüber ist sehr bewegend. Nachdem er eine grobe, hypothetische ‹Formel› für den Mythos im Allgemeinen entwickelt hat, fährt er mit einer Erläuterung fort, dass er seine Forschungen darüber nicht beenden kann, weil die Anthropologie in Frankreich über viel zu wenig Mittel verfügt und er eigentlich ein Forscherteam und ein größeres Büro dafür bräuchte. Er hat Mythen zusammengefasst und die einzelnen Mytheme auf große Karteikarten geschrieben, und irgendwann ging ihm schlicht und einfach der Platz aus. Er schrieb, er habe eben keine ‹IBM-Ausrüstung›, wie er das nennt, wobei ich mir wirklich nicht vorstellen kann, wie ein Computer da helfen sollte. Meiner verkraftet ja nicht mal ein einzelnes Buchkapitel, ohne vor lauter Überlastung in theatralische Todeszuckungen zu verfallen.»
«Wladimir Propp kommt in meinem Seminar auch noch dran», sagte Frank, an mich gewandt. «Er hat russische Märchen analysiert und eine Art Formel für ihre Darstellung entwickelt. Nach seiner Theorie setzen sie sich alle aus einer begrenzten Anzahl Handlungsfunktionen zusammen, etwa so wie verschiedene Rezepte, die man aus denselben Zutaten zubereitet. Viele Märchen fangen beispielsweise damit an, dass der Held etwas Bestimmtes nicht tun darf, beispielsweise nicht in einen Schrank schauen oder einen bestimmten Apfel pflücken. Anders ausgedrückt: ein Verbot, dem Propp den Code Y 1 gibt.»
«Und dann macht der Held genau das, was ihm eigentlich verboten wurde?», fragte ich, obwohl ich die Antwort bereits kannte.
«So ist es doch immer», stellte Frank fest.
«Dann ist also alle Fiktion gleich?»
«Nein, nein.» Vi schüttelte den Kopf. «Es gibt auch Geschichten ohne solche Formeln; die sind nur nicht ganz so leicht zu finden. Und sie werden mathematisch auch ganz anders ausgedrückt. Um solche Geschichten als Gleichung darzustellen, bräuchte man komplexe Zahlen – das sind die Quadratwurzeln negativer Zahlen. Ich sitze gerade an einem Aufsatz darüber.»
Unsere Pizzen kamen, und Vi erzählte nicht weiter von ihrem Aufsatz.
«Was stört Sie denn eigentlich an meinen Affen?», wollte Tony von Vi wissen, als wir mit dem Essen angefangen hatten.
«Na ja, was Sie sagen, gefällt mir im Großen und Ganzen schon, aber Sie haben die Unendlichkeit falsch dargestellt. Immerhin behaupten Sie, dass allein aufgrund der Wahrscheinlichkeit eine Million oder mehr Affen in der Lage sein müssten, die gesammelten Werke Shakespeares zu schreiben, wenn sie dafür nur unendlich viel Zeit hätten.»
Das hatte er tatsächlich behauptet, und anschließend hatte er uns alle aufgefordert, uns vorzustellen, wir hätten eine Ausgabe des Sturm in der Hand. In diesem Gedankenspiel wüssten wir nicht, ob der Text nun von Shakespeare oder rein zufällig von einer Meute Affen stamme. Spielte es eine Rolle, was von beidem der Fall war? Besaßen die Wörter auf den Seiten noch Bedeutung, wenn keine Absicht dahintersteckte? Ich hatte mir damals nicht recht vorstellen können, dass etwas nicht von Menschen Geschriebenes überhaupt lesbar sein sollte oder dass etwas Nicht-Menschliches, und sei es die Wahrscheinlichkeit persönlich, in der Lage sein könnte, ein Werk wie den Sturm zu schaffen. Doch Tonys Argumentation war durchaus logisch, und wir waren alle zu dem Schluss gekommen, dass es keine Rolle spielte oder zumindest nichts an der Bedeutung der geschriebenen Worte ändern würde, ob der Text nun von Shakespeare, von Affen, von einem Zufallsgenerator oder sonst irgendjemandem verfasst worden war.
«Auch wenn man unendlich viel Zeit hat, gibt es doch immer noch Dinge, die nie geschehen», meinte Frank. «Die Affen würden erst mal eine endlose Menge Kauderwelsch verfassen, bevor sie ein Shakespeare-Stück schreiben. Und damit setzen wir immer schon voraus, dass sich überhaupt Affen finden, die unendlich lange leben, was
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