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Das Ende der Geschichten (German Edition)

Das Ende der Geschichten (German Edition)

Titel: Das Ende der Geschichten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Scarlett Thomas
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quergelesen und dabei einige interessante Aspekte bemerkt, ohne das Ganze in mich aufzunehmen. Die Karten selbst faszinierten mich dann aber doch sehr, weil jede von ihnen eine Geschichte erzählte und damit dem Buch zufolge Teil einer umfassenderen, rätselhafteren Geschichte wurde, in der der Narr die maskierte Manifestation der Welt und der Gehängte ein Mensch in tiefer innerer Versenkung war, dessen Geschlechtsteil auf sein Gehirn wies.
    Das Buch behauptete, jede Geschichte und damit auch jeder menschliche Zustand auf dieser Welt lasse sich durch ein Muster aus nur sechs der achtundsiebzig Karten abbilden. Ich erfuhr, dass die großen Arkana aus zweiundzwanzig Trumpfkarten bestehen, die von 0 bis 21 durchnummeriert sind. Die kleinen Arkana bestehen aus vier Farben mit jeweils vierzehn Karten: vier Hofkarten, normalerweise König, Königin, Ritter und Page – wobei manchmal auch die Variante König, Königin, Prinz und Prinzessin vorkommt –, und zehn Zahlenkarten. Während die großen Arkana immer schon scheinbar archetypische Darstellungen zeigten, die auf einer Grundidee basierten, wurden die kleinen Arkana 1910 erstmals illustriert, als das Rider-Waite-Tarot, das ich vor mir hatte, veröffentlicht wurde.
    Die Karte des Narren gefiel mir am besten. Sie zeigte eine androgyne, verträumte Gestalt, die planlos ihres Wegs zog und dabei ein wenig an Dick Whittington erinnerte, nur dass sie von einem Hund und nicht von einer Katze begleitet wurde. Der Narr, dem man die Zahl 0 zugeordnet hatte, war keineswegs das, wofür ich ihn zunächst hielt: ein realitätsferner Mensch, der gleich in den Abgrund stürzen wird, weil er so sehr vor sich hin träumt und nicht einmal merkt, dass sein Hund an ihm hochspringt, um ihn vor der drohenden Gefahr zu warnen. Dem Buch zufolge hat die Narrenkarte schon immer die Basis von allem symbolisiert: Seine Zahl, die 0, ist ein Ganzes, ein Kreis, eine eigene Welt; sie ist die Nicht-Existenz, die alle Existenz erst ermöglicht und ihr vorangeht. Daher steht der Narr für unser aller grundlegendes Wesen: ein Mensch im ursprünglichen Zustand des Seins beziehungsweise der Erleuchtung, der fast frei von Sorgen und Besitztümern und unverdorben von Bildung umherzieht. Als Narr erscheint ein solcher Mensch nur denen, die selbst noch nicht erleuchtet sind. Zudem repräsentiert die Karte das unschuldige, ursprüngliche Staunen angesichts des Schritts ins Unbekannte. Wir mögen ja davon ausgehen, dass es gefährlich ist, über einen Felsrand zu treten, doch vielleicht weiß der Narr, dass er einfach nur auf dem nächsttieferen Vorsprung landen wird. Wir können nicht sagen, was jenseits der Karte liegt: vielleicht die Rettung, vielleicht auch der Tod. Doch der Narr sieht, was wir nicht sehen. Die nächste in der Reihe der Trumpfkarten – sie besetzt die Position mit der Nummer 1 – ist der Magier, eine Art Schelm, der jedoch einen festen Platz in der Gesellschaft hat. Er ist sich seiner eigenen Macht und Stellung ebenso bewusst wie auch seiner Fähigkeit, die Natur zu beherrschen. Auf dem Tisch vor ihm liegen ein Stab, ein Schwert, ein Kelch und ein Pentakel; diese Gegenstände repräsentieren die vier Farben des Tarot. Der Magier ist der domestizierte Narr, der noch eine lange Reise vor sich hat, bevor er sich der Welt, der 22. Trumpfkarte, wieder anschließen kann, die manchen als der Narr in seiner – oder ihrer – wahren Gestalt erscheint: nackt und bloß und mit allem verbunden.
    Das Buch schlug vor, jede Karte einzeln zu betrachten und alle Gedanken, Bilder und Assoziationen zu notieren, die sie auslöst, damit man sie hinterher umso schneller deuten kann. So viel Zeit hatte ich nicht, doch immerhin blätterte ich das Deck einmal durch und bemerkte weitere interessante Details. Da war beispielsweise die Stern-Karte, auf der eine nackte Frau mit einem Fuß in einem Teich und mit dem anderen an Land stand. Sie schüttete Wasser aus zwei Gefäßen: Das Wasser des einen befeuchtete das Land, das des anderen füllte den Teich auf. Auch sonst gab es viele Frauen in dem Spiel: die Kraft, die Gerechtigkeit, die Mäßigkeit, das Gericht und auch die Welt waren weiblich, ebenso wie die Hohepriesterin und die Kaiserin. Ein paar spannende männliche Karten waren ebenfalls dabei, der Hierophant beispielsweise oder der Eremit. Es gab Karten, die zerstörerisch und bedrohlich wirkten, wie der Turm, der Teufel oder der Tod. Und es gab sogar eine Hundekarte, die ich natürlich gleich B.

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