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Das Ende der Geschichten (German Edition)

Das Ende der Geschichten (German Edition)

Titel: Das Ende der Geschichten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Scarlett Thomas
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Leben lang hat er sie unterstützt. Seine älteren Brüder waren beide Alkoholiker und keine große Hilfe. Das Leben der Unterschicht war ihm also bestens vertraut: Schmutz, Armut – der ‹Misthaufen› des Lebens. Bei Tolstoi meinte er, auf moralischer Ebene grobe Vereinfachung, vielleicht auch Naivität wahrzunehmen – zumindest empfand er das so, bis er ihm persönlich begegnete. Tschechow schätzte den Fortschritt. Er hat einmal gesagt: ‹In Elektrizität und Dampfkraft liegt mehr Menschenliebe als in Keuschheit und Ablehnung des Fleischgenusses.› Die Bemerkung geht mir nicht mehr aus dem Kopf, seit ich sie das erste Mal gelesen habe. Der reiche Tolstoi glaubt, das Leben eines Bauern sei rechtschaffen in seiner Einfachheit. Aber Tschechow hat das alles erlebt. Er hat tatsächlich Gänsesuppe gegessen, die so dünn war, dass, wie er sagt, das einzig Handfeste darin wie der Schaum gewesen sei, der im Badewasser zurückbleibt, wenn mehrere dicke Marktfrauen darin gebadet haben. Er hat tatsächlich in Krippen geschlafen. Und er war begeistert, seine dörfliche Heimat Taganrog verlassen zu können, und hielt sich liebend gern in Petersburg auf, wo es echte Intellektuelle und gutes Essen gab. Er hegte keine romantischen Vorstellungen von Bauern und dem Leben auf dem Land. Es ist interessant, seine Erzählung ‹Bauern› mit den Passagen aus Anna Karenina zu vergleichen, in denen Levin glaubt, die Erleuchtung zu finden, wenn er nur so hart arbeitet wie ein Bauer. In Tschechows Erzählung ist das Bauernleben schlichtweg eintönig, langweilig und schwer. Später hat er sich natürlich mit Tolstoi angefreundet, und sie kamen bestens miteinander aus. In gewisser Weise hat Tschechow immer zu ihm aufgesehen.»
    «Ich will ja nicht polemisch werden», sagte Tony. «Aber geht es nicht ein bisschen in die falsche Richtung, so genau rekonstruieren zu wollen, wie diese Autoren ‹wirklich waren› und was ihre größten Werke ‹wirklich bedeuten›?»
    «Sicher», erwiderte Frank lächelnd. «Das hat Tschechow sogar selbst gesagt. So neu ist der Gedanke nämlich gar nicht. Er wäre mit dem, was du gerade gesagt hast, absolut einverstanden gewesen. Man hat ihn ständig dafür kritisiert, er schreibe zu realistisch. Aber er wollte nun einmal nicht als Liberaler oder Konservativer gelesen werden, sondern nur als Mensch, der die Wahrheit sagt und dabei nicht anmaßend ist. Er fand, urteilen müsse der Leser, nicht der Autor.»
    «Aber brauchen wir denn die Erlaubnis des Autors, um seine Werke so zu lesen, wie es uns gefällt?»
    «Natürlich nicht, aber …»
    «Aber so ist es ja nun auch wieder nicht, dass wir einfach lesen können, ‹wie es uns gefällt›», warf ich ein. «Oder? Man muss doch auch die affektiven Fehlschlüsse bedenken.»
    «Dann hören Sie also in meinen Vorlesungen doch zu», meinte Tony zu mir.
    «Oh, die Vorlesung habe ich auch gehört», sagte Vi zu ihm. «‹Der Tod des Autors›, stimmt’s? Ich fand sie ziemlich gut, bis auf die Sache mit den Affen und der Unendlichkeit.»
    «Wo haben Sie die denn gehört?», fragte Tony.
    «Ach, wenn ich auf Reisen bin, nehme ich mir immer Mitschnitte von Vorlesungen aus anderen Fachbereichen mit ins Flugzeug. Seit ich keine Krimis mehr lese, brauche ich ja eine neue Beschäftigung für die langen Strecken. Manchmal lese ich auch Zen-Geschichten, aber die sind immer so kurz. Mein Lektürestapel ist zwar die meiste Zeit größer als ich, aber auf Flugreisen brauche ich doch etwas Seichteres, um abzuschalten.»
    «Herzlichen Dank», sagte Tony. «Schön zu hören, dass meine ‹seichten› Vorlesungen Ihnen beim Abschalten helfen.»
    «Nicht beleidigt sein», gab Vi zurück. «Ihre sind ziemlich gut. Und vielleicht ist ‹seicht› ja auch gar nicht das richtige Wort. Aber Sie kennen doch diese Bücher, die einen komplizierten Gegenstand allgemeinverständlich darstellen? Im neunzehnten Jahrhundert gab es noch viel mehr davon als heute, was wirklich ein Jammer ist. Solche Bücher würde ich gern im Flugzeug lesen. Und Einführungsvorlesungen kommen dem noch am nächsten. Die zur Mathematikgeschichte gefällt mir auch. Ich würde mir gerne mal eine richtige Mathematikvorlesung anhören, aber die werden nicht aufgezeichnet, weil sie größtenteils an der Tafel stattfinden.»
    «Vi beschäftigt sich gerade mit Erzähltheorie», erläuterte Frank. «Und als sie mich gefragt hat, wessen Vorlesungen sie sich am besten anhören soll, habe ich ihr natürlich deine

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