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Das Ende der Geschichten (German Edition)

Das Ende der Geschichten (German Edition)

Titel: Das Ende der Geschichten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Scarlett Thomas
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was ich meine). Paul will ihn diese Woche als Aufmacher fürs Feuilleton nehmen. Und er hat was gemurmelt, Dir eine eigene Kolumne geben zu wollen. Mit diesem Quatsch von der Hobbykultur im 21. Jahrhundert hast Du ihn echt gepackt. Er hat selber eine Modelleisenbahn. Hast Du das etwa gewusst?
    Eine Kolumne! Der Heilige Gral eines jeden freien Journalisten. Doch Oscar, fiel mir ein, hatte so etwas früher schon gemacht. Wann immer er mich zu etwas bewegen wollte, wozu ich absolut keine Lust hatte, kam er mit der Behauptung daher, Paul denke darüber nach, mir eine Kolumne zu geben. Als ich Paul dann einmal bei einer Buchpräsentation traf, hatte ich die Kolumne erwähnt, und er hatte mich angesehen, als hätte ich nicht alle Tassen im Schrank. Diesmal allerdings war die Situation anders. Ich hatte ja weder um mehr Zeit gebeten noch versucht, den Artikel wieder loszuwerden. Ich las die ganze Mail erneut durch, für den Fall, dass ich womöglich irgendwo die Aufforderung übersehen hatte, den Artikel bis Donnerstag noch einmal völlig umzuschreiben. Oscar verlangte nichts dergleichen. Aber vielleicht kam die entsprechende Mail ja noch hinterher, und die Sache mit der Kolumne klärte sich von ganz alleine auf.
    Jedes Mal, wenn jemand einen meiner Texte über den grünen Klee lobte, las ich ihn hinterher noch einmal, und zwar mit den Augen dieser Person. Das waren die einzigen Momente, in denen ich mich richtig entspannen und mich an meiner Arbeit freuen konnte, und sie waren ausgesprochen selten. Ich eröffnete den Artikel mit der recht naheliegenden Feststellung, dass die Ratgeberbranche davon lebe, ihren Lesern Zweifel an sich selbst einzuimpfen. Anschließend schilderte ich einige der absurderen Angebote, mit deren Hilfe man die eigenen Unzulänglichkeiten «beheben» und als Liebhaber, Geschäftspartner und so weiter attraktiver werden konnte. Aus Büchern konnte man beispielsweise lernen, jemanden mit einem «exklusiven Lächeln» zu bezaubern, den Verlauf jedes beliebigen Gesprächs, das man führen wollte, vorab festzulegen, sich zum «Wähler» zu machen anstatt zum «Gewählten», zum «Magneten» zu werden und alle Menschen und Gegenstände, die man haben wollte, einfach anzuziehen, die Kraft der «Leck mich!»-Philosophie zu verinnerlichen, die Gedanken anderer anhand ihrer Körpersprache zu entschlüsseln und selbst über den eigenen Körper zu kommunizieren sowie die uralten Geheimnisse der Schöpfungskraft dazu zu verwenden, der nächsten PowerPoint-Präsentation mehr «Pepp» zu geben.
    Und wenn man sein Leben in dieser Welt trotzdem nicht auf die Reihe bekam, gab es immer noch die Anderswelt der Zauberwesen und Schutzgeister, der früheren und künftigen Leben. Solche Bücher wiesen dem Einzelnen immer irgendeinen Weg an, zum Helden zu werden. Keiner wurde je dazu ermuntert, ein Monster oder ein Drache oder auch nur einer der Helfer am Wegesrand zu sein. Und es wurde auch keiner dazu ermuntert, ein Narr oder ein Eremit zu werden. Aber ob man nun durch Transzendenz tausendjährige Perfektion erreichen oder einfach nur den Rest seines sterblichen Daseins damit zubringen wollte, «perfekt» zu sein und die besten PowerPoint-Präsentationen der Welt zu erstellen, die Perfektionierung der eigenen Persönlichkeit blieb immer als allgemeines Ziel vorausgesetzt. Offenbar war die gesamte westliche Welt gerade dabei, sich in eine einzige große Reality-Show zu verwandeln, in der von jedem angenommen wurde, er wolle unbedingt der Beliebteste und Talentierteste und der größte Star werden. Dabei persiflierte ich in meinem Artikel das Ratgeberformat und bot selber Tipps an, wie man sein Leben eher nach außen als nach innen gerichtet gestalten konnte. Ich konzentrierte mich auf die Fähigkeiten, die es zu entwickeln galt, um ein Anti-Held, womöglich sogar ein Narr, zu werden, der weder Reichtum noch Erfolg noch süßliche Liebesromanzen ersehnt. Meine Vorschläge gingen dahin, dass sich diejenigen, die das Gedankengut der Perfektion und des individuellen Heldentums ablehnten, ein paar Bücher zulegen sollten, mit deren Hilfe sie eine neue Fähigkeit erlernen konnten oder vielleicht auch eine neue Sprache, und zwar nicht mit dem Ziel, erfolgreicher oder angepasster zu werden, sondern einfach nur aus Spaß: um über den Abhang zu treten und zu sehen, was dann geschah. Als Anti-Held oder Narr konnte man sich mit Botanik oder Birdwatching beschäftigen, Geräte reparieren, Bücher übersetzen, etwas sticken oder auch

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