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Das Ende der Geschichten (German Edition)

Das Ende der Geschichten (German Edition)

Titel: Das Ende der Geschichten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Scarlett Thomas
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besten Bilder und Beobachtungen hat er sich dafür aufgehoben, für nichts und wieder nichts, weil es nämlich im Grunde fast unmöglich ist, eine in sich stimmige Handlung über dreihundert und noch mehr Seiten zu strecken.»
    «Tschechow hatte aber auch viel zu viel damit zu tun, mit seinen Kurzgeschichten und Theaterstücken Geld zu verdienen», warf Frank ein. «Er musste schließlich seine Familie über Wasser halten.»
    «Müssen wir doch alle», sagte ich.
    Tschechows Plan für seinen Roman war recht schlicht. Er beschreibt ihn in einem Brief aus dem Jahr 1888: «Mein Roman umfasst einige Familien und einen ganzen Landkreis mit seinen Wäldern, Flüssen, Fähren, der Eisenbahn. Im Zentrum des Kreises stehen zwei Hauptfiguren, eine männliche und eine weibliche, um die herum sich die anderen Steine gruppieren. Eine politische, religiöse und philosophische Weltanschauung habe ich noch nicht; ich ändere sie Monat für Monat und muss mich deshalb auf die Beschreibung dessen beschränken, wie meine Helden lieben, heiraten, gebären, sterben und wie sie reden.» Womöglich brauchte man ja eine Weltanschauung, um einen Roman zu schreiben, selbst wenn sie sich dann als falsch erwies. Aber auch ich hatte mich bisher für keine Weltanschauung entschieden, nicht einmal für eine falsche.
    «Das sind doch alles nur Ausreden.» Vi seufzte. «Du musst endlich ernsthaft mit dem Schreiben anfangen, bevor es zu spät ist. Tschechow hat wenigstens Kurzgeschichten geschrieben, die zu Klassikern geworden sind, während er mit seinem Roman nicht weiterkam. Du hast bisher nichts weiter zustande gebracht als ein paar schmale Bändchen, die ahnungslose Teenager mit neoliberalen Moralvorstellungen indoktrinieren. Du erzählst ihnen, die Welt sei in Ordnung, wenn man es nur schafft, sie zu erobern, sie in Besitz zu nehmen und ihr einen ‹eigenen› Sinn zu geben. Und indirekt vermittelst du ihnen damit, dass alles irgendwie in eine vorgefertigte Handlungsschablone passt, in der man tun und lassen kann, was man will, solange man nur der Held ist. Du vermittelst ihnen, wie ein Happy End aussieht und dass es dabei immer um persönlichen Erfolg geht. Du vermittelst ihnen, dass es in unserer Welt nichts gibt, was sich nicht rational erklären ließe, dabei ist das glatt gelogen. Du vermittelst ihnen, dass Konflikte nur dazu da sind, hübsch ordentlich aufgelöst zu werden, dass alle Armen reich werden wollen und alle Kranken wieder gesund, dass jeder, der irgendein Verbrechen begeht, ein böses Ende findet und die Liebe grundsätzlich rein sein muss. Und du vermittelst ihnen, dass sie trotzdem noch etwas Besonderes sind und die Welt sich nur um sie dreht …»
    «Herrgott nochmal!», unterbrach ich sie. «So einfach ist das alles nicht, und das weißt du ganz genau. Ich will ja gar nicht behaupten, dass Zeb-Ross-Romane hohe Kunst wären, aber in einigen gibt es immerhin auch Außenseiterfiguren, die lernen, dass es in Ordnung ist, so zu sein, wie man ist …»
    «Besser gesagt, sein Schicksal zu akzeptieren und keinen Aufstand deswegen zu machen …»
    «Aber sie machen doch Aufstand. In allen Geschichten geht es doch immer nur um Aufstand. Du glaubst anscheinend, dass sich eine Handlung mit drei Akten einfach so zusammenfügt wie ein gestrickter Schal, aber das stimmt nicht. Es ist verflixt harte Arbeit. Hast du’s schon mal versucht? Nein, natürlich nicht. Du hast ja nicht einmal versucht, selbst eine von diesen schwammigen, handlungslosen Geschichten zu schreiben, die du für so wahnsinnig großartig hältst, obwohl jede Sechsjährige dir in fünf Minuten eine davon zusammenstöpseln könnte. Es ist leicht, so zu schreiben wie du, weil du einfach irgendwo hinfährst, Dinge erlebst und sie anschließend aufschreibst. Aber mit einem Roman ist das anders. Es ist scheißschwer, und immerhin versuche ich es, was man von dir nicht behaupten kann.»
    Als ich aus dem Zimmer stürmte, sah ich gerade noch, wie Frank zu Vi hinüberging und ihr eine Hand auf die Schulter legte. Am nächsten Morgen, vor der Abreise, traf ich nur Claudia an, die meinte: «Mein Gott, das will ich ihr alles schon seit Jahren sagen. Gut gemacht, Kleine.» Als ich aufbrach, wiederholte Sebastian immer noch ununterbrochen: «Gut gemacht, Kleine!», und Claudia versuchte, ihn mit Bananenstückchen zu bestechen, damit er wieder zu seinen Shakespeare-Zitaten zurückkehrte, ehe Frank und Vi aufstanden. Seither hatte ich mit beiden nicht mehr gesprochen.
    Fast eine

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