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Das Ende der Geschichten (German Edition)

Das Ende der Geschichten (German Edition)

Titel: Das Ende der Geschichten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Scarlett Thomas
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am Kiesstrand herum und überlegte mir, wie es wohl sein würde, einfach in das seichte blaue Wasser hineinzugehen und nie mehr herauszukommen. Aber natürlich ging ich nicht ins Wasser. Stattdessen sah ich zu Boden und dachte darüber nach, dass Kies immer Kies blieb, was immer man auch mit ihm anstellte. Eigentlich hätte es bitterkalt sein müssen, doch die Luft ringsum war eher feucht, und sanfter, warmer Nieselregen fiel mir aufs Haar. B. war in Slapton Sands immer ganz besonders auf der Hut, selbst im Winter, und setzte ihre Pfoten nur leicht auf die Kieselsteine, als wären es lauter scharfe Glasscherben. Mir war fast so trostlos zumute wie an dem Tag in Dartmouth, als ich mir die Wolle gekauft hatte, und auf der endlosen Autofahrt mit B. von Schottland hierher. Und diesmal bat ich das Meer um Hilfe. Ich stand dort am Strand, schaute in die Wellen, die sich zu meinen Füßen brachen, und sagte: «Hilf mir.» Dann setzte ich noch ein «Bitte» hinzu. Sofort traten mir Tränen in die Augen, weil ich allen Ernstes um Hilfe bat. Doch das Meer schwieg, es schickte nur weitere Wellen zu mir heran. Also suchte ich mir ein paar große Steine und stellte mir vor, dass jeder für eins meiner Probleme stand. Der Streit mit Vi. Meine chronische Geldnot. Christophers Verzweiflung. Meine eigene Verzweiflung. Das feuchte Haus. Mein Roman. Sex. Ich hätte die Liste noch weiterführen können, fand aber, das genüge fürs Erste. Dann warf ich die Steine ins Meer. Doch es fühlte sich an, als hätte ich sie gar nicht weggeworfen; ich spürte den Drang, ihnen nachzuspringen. Ob Christopher sich bei meiner Beerdigung wohl schämen würde, wenn ich das tat? Ob es einen Nachruf geben würde?
    Seicht, seicht. Und das Meer war tief. In Meereseinsamkeit tief,/Fern dem Lebensstolz, der sie rief,/Und dem Dünkel der Menschen, in Stille lagert sie. Mein Lieblingsgedicht – das einzige, das ich auswendig konnte – handelte vom Untergang der Titanic . Ich sagte es dem Meer laut auf, so, wie ich es Rowan aufgesagt hatte, und eine Zeit lang konnte ich mir einreden, dass das Meer mich verstand. Was es wohl von diesem Gedicht halten würde, in dem es nicht als Held oder Widersacher, sondern einfach nur als unbeteiligte Flüssigkeit fungierte, in der Schiff und Eisberg aufeinanderprallen mussten und in der das Wrack der Titanic schließlich zu ruhen kam, beobachtet von Fischen, mondäugig und bleich . Und dann, aus dem Nichts, an diesem warmen, regnerischen ersten Tag des Jahres 2008, spuckte das Meer etwas aus. Es war ein Flaschenschiff, ein makelloses Schiff in einer leicht angestoßenen, vom Sand glattgeriebenen Flasche, und es fiel mir direkt vor die Füße. Offensichtlich hatte es eine lange Zeit im Meer verbracht, doch ich erkannte es sofort wieder. Im Innern der Flasche war ein blaues Meer aus Wachs, und das Schiff auf diesem Meer trug dieselbe Inschrift wie damals am Bug: «Cutty Sark». Ich sagte mir, dass es unmöglich war, dass ich es gar nicht wiedererkennen konnte; dann schloss ich die Augen und öffnete sie wieder. Das Schiff war immer noch da. Ich konnte es nicht fassen. War es das, was sich dieses Meer unter Hilfe vorstellte? «Was zum Geier soll das denn heißen?», fragte ich die Wellen. Sie gaben keine Antwort. Mit zitternden Händen hob ich das Flaschenschiff auf und nahm es mit nach Hause. Seither stand es bei mir auf dem Regal, und ich versuchte zu ergründen, was es bedeuten sollte und wen ich jetzt, da Vi nicht mehr mit mir sprach, danach fragen konnte, denn außer ihr kannte ich niemanden, der mir diese Geschichte überhaupt geglaubt hätte.
    ***

Als ich am Montagabend die Küstenstraße von Torquay entlangfuhr, hatte die Flut bereits ihren Höhepunkt erreicht, und ich hoffte insgeheim, die Wellen würden vielleicht bis an den Wagen heranschwappen, was sie aber nur bei Sturm- oder Springfluten taten. Wenn der Wagen weggespült würde, konnte ich mich höchstwahrscheinlich retten, dann die Versicherungssumme einstreichen und mir davon ein neues Auto kaufen. Vielleicht sollte ich meinen Wagen ja auch in den Fluss schieben, so wie Libby es mit ihrem gemacht hatte. In einem Haltestellenwartehäuschen an der Hauptstraße nach Paignton hing immer noch das Plakat zur Eröffnung des neuen Schifffahrtsmuseums im vergangenen Oktober. Ich hatte nicht einmal eine Einladung bekommen. Ansonsten war in Paignton alles wie gehabt: Die beiden örtlichen Reisebüros hatten verschiedene «Magical Mystery Tours» im Angebot, und gleich

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