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Das Ende der Geschichten (German Edition)

Das Ende der Geschichten (German Edition)

Titel: Das Ende der Geschichten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Scarlett Thomas
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was strenggenommen bedeutete, dass ich sie in meinem ernsthaften Roman über das «Wahre Leben», dessen Figuren ihr Begehren auf bedeutsame, wenngleich problematische Objekte richten mussten und nicht einfach nur wahllos Dinge wollen konnten, die die Handlung vorantrieben, gar nicht verwenden durfte. Der Begriff «MacGuffin» stammt von Alfred Hitchcock und beschreibt einen Gegenstand, der in sich keine weitere Bedeutung hat, sondern nur dazu dient, die Handlung einer Geschichte in Gang zu bringen, weil etliche Figuren ihn für sich haben wollen. Das kann ein Dokument sein, ein Schlüssel, ein Diamant, eine Statue oder sonst etwas, meinetwegen auch ein Pomadentopf. Laut Aristoteles zeugte es von kunstloser Handlungsgestaltung, ein zufällig gewähltes Objekt zu verwenden, um das Geschehen voranzutreiben oder einen Wiedererkennungseffekt zu auszulösen, und ich war ganz seiner Meinung. Meine Handlungsgestaltung war mit Sicherheit nicht kunstlos, nur ineffizient. Ich fragte mich, ob vielleicht alles, was man so haben wollte, eigentlich nur ein MacGuffin war, fand den Gedanken dann aber zu deprimierend und verwarf ihn wieder.
    Ich nahm mein Flaschenschiff in die Hand und rieb mit dem Ärmel den Staub ab. Diesen Gegenstand wollte niemand haben, nicht einmal ich. Ich seufzte. Oben auf meinem Bücherregal bewahrte ich unergründliche Dinge auf – oder besser gesagt: Dinge, die auf andere Weise unergründlich waren als meine Steuerformulare oder die Tantiemenabrechnungen. Das gerahmte Foto einer vergilbten, schimmligen Zehn-Pfund-Note, die ich vor mehr als zwanzig Jahren an einem Regentag im Laub gefunden hatte, nachdem ich das Universum angefleht hatte, mir doch bitte etwas Geld zukommen zu lassen, egal woher, weil ich unbedingt nach Essex zu meiner Freundin Rosa fahren wollte, die gerade mit ihrem Freund Schluss gemacht hatte. Den Zettel mit Drews Telefonnummer, den ich fast acht Kilometer von der Stelle entfernt wiedergefunden hatte, wo ich ihn verloren haben musste. Einen bestickten Beutel, der einmal voller Tabak gewesen war, und den ich vor Jahren, als ich noch rauchte, mitten im Wald gefunden hatte, kilometerweit von der nächsten Ortschaft entfernt, nachdem ich gerade festgestellt hatte, dass mein eigener Tabak noch zu Hause lag. Irgendwann hatte ich mal vorgehabt, einen Artikel für eine wissenschaftliche Fachzeitschrift zu schreiben, in dem ich darlegen wollte, dass solche scheinbaren «Glücksfälle» sich schlicht und einfach durch ganz normale Zufälle und Wahrscheinlichkeiten erklären ließen. Damals kursierten gerade noch ein paar Geschichten von Fällen, bei denen ein Paar seine Eheringe verloren und dann irgendwo an der Küste wiedergefunden hatte, fünfhundert Kilometer vom Verlustort entfernt, oder jemand das klingelnde Telefon einer beliebigen Telefonzelle abnahm und einen lange verschollenen Angehörigen an der Strippe hatte. Mir waren solche Dinge nicht geheuer, ich wollte sie per Handlungsstruktur beseitigen. Daher auch der Plan, einen Artikel über das Phänomen der Apophänie zu schreiben, der Wahrnehmung bedeutsamer Zusammenhänge, wo gar keine waren. Doch dann verließ der Redakteur, der den Artikel bringen wollte, die Zeitschrift, und ich musste den Plan begraben.
    Ich besaß zwei Schreibtische. Auf dem einen stand jetzt mein Notebook, neben einem Buchständer und etlichen Handgelenk- und Armstützen, die meine Mutter mir geschenkt hatte, um Sehnenscheidenentzündungen vorzubeugen. Auf dem anderen türmten sich unabgeheftete Kontoauszüge, Briefe, die den von B. verspeisten Fahnen beilagen, Autorenverträge, Filmoptionen, unverständliche Tantiemenabrechnungen auf Russisch, Honorarschecks über Beträge in Höhe von fünf Pfund fünfzig oder sieben Pfund fünfundneunzig, die sofort in meinen Überziehungszinsen verschwinden würden, falls ich sie überhaupt jemals einlöste, zunehmend garstigere Schreiben vom Finanzamt, ungeordnete Orb-Books-Unterlagen, zwei Notizbücher mit Spiralbindung sowie die Bücher und Fahnen, die an mein Postfach gingen und von Christopher dort abgeholt wurden. Vieles davon lag nur auf diesem Schreibtisch, weil Christopher häufig durchs Haus streifte, wenn ich nicht da war, alles zusammensuchte, was mir gehörte, und es dann dort deponierte. Wo also war das Buch, das ich eigentlich hätte rezensieren sollen? Kurz nachdem Christopher am Samstagnachmittag aufgebrochen war, um Josh zur Bushaltestelle zu bringen, war ich nach oben gegangen und hatte das

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