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Das Ende der Geschichten (German Edition)

Das Ende der Geschichten (German Edition)

Titel: Das Ende der Geschichten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Scarlett Thomas
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zusammensetzen. Erst dachte ich, das heißt, dass ich wieder ganz von vorn anfangen muss – zum etwa hundertsten Mal. Aber eben ist mir klar geworden, dass ich dafür alles Mögliche verwenden kann, was ich schon längst geschrieben habe, quasi für die Rohfassungen, die in dem Notizbuch stehen. Am besten ist die Autorin sogar tot. Vielleicht wird ihr Notizbuch irgendwo angeschwemmt wie eine Flaschenpost oder so was, und der Leser muss sich alles, was passiert ist, aus den Fragmenten ihrer realen und fiktiven Notizen zusammenstückeln.» Ich dachte beim Reden, und wie üblich führten meine Gedanken mich an Orte, an die ich gar nicht wollte. «Oder nein, das ist schon wieder zu handlungslastig. So wird es wahrscheinlich doch nicht. Trotzdem finde ich die Notizbuch-Idee ziemlich toll. Was meinst du dazu?»
    Libby zog die Stirn kraus. «Es gibt also gar keine richtige Geschichte – nur Notizen?»
    «Ja, aber die Notizen ergeben dann eine Geschichte oder vielleicht auch zwei. Das ist vermutlich schwer nachzuvollziehen, aber ich sehe ganz genau vor mir, wie das funktionieren kann. Manchmal haben Romane ja auch zu viel Handlung. Meiner soll wie das richtige Leben sein; da ist es vielleicht eine gute Lösung, das Ganze als Gebrauchsgegenstand zu strukturieren.»
    «Aber als fiktiven Gebrauchsgegenstand?»
    «Klar.»
    «Klingt spannend.»
    Die Tür ging wieder auf, und ein Mann in einem wadenlangen schwarzen Regenmantel mit einer gewaltigen Kapuze kam herein. B. knurrte. Der Mann winkte mir zur Begrüßung zu und ging dann zur Theke hinüber. Als er den tropfnassen Mantel auszog, sah ich, dass es Tim Small war, den ich seit einer Ewigkeit nicht mehr gesehen hatte. Ich wartete, bis er wieder in unsere Richtung schaute, dann winkte ich zurück. B. knurrte erneut, gähnte dann und schlief, den Kopf auf meinem Fuß, unter dem Tisch ein.
    «Wer ist denn das?», erkundigte sich Libby.
    «Tim Small. Er soll einen Zeb-Ross-Roman über die Bestie vom Dartmoor schreiben. Außer ihm hat es keiner aus der Gegend jemals so weit mit Zeb gebracht. Es ist noch nicht ganz in trockenen Tüchern, aber ich freue mich natürlich riesig. Sag’s aber nicht weiter.»
    «Natürlich nicht.» Sie kaute an einem Fingernagel herum. «Gibt es im Dartmoor denn eine Bestie?»
    «Nicht dass ich wüsste. Es basiert lose auf der Bestie vom Bodmin Moor, aber wir wollen natürlich nicht riskieren, dass die Bestie vom Bodmin Moor uns vor Gericht zerrt, insofern … Nein, Spaß beiseite, Tim kennt das Dartmoor einfach sehr gut; er ist also genau der Richtige dafür. Und ich glaube, das könnte ein großer Erfolg werden. Er war letztes Jahr bei mir im Workshop. Da waren übrigens einige gute Projekte dabei – und nicht mal nur für Zeb Ross. Kennst du Andrew Glass, den Wirt vom Foghorn? Der schreibt ein ganz tolles autobiographisches Buch über die gescheiterte Landungsübung in Torcross.»
    Man behauptete, sie spukten dort, in Slapton und Torcross, am Strand und auf dem Meer: die Geister jener amerikanischen und britischen Soldaten, die dort für den D-Day 1944 geübt hatten. In den sechziger Jahren, als kleiner Junge, hatte Andrew Glass plötzlich menschliche Schreie aus dem Meer gehört. Er schloss daraus, dass es irgendwann im Krieg einen schrecklichen Unfall in Slapton gegeben haben musste, doch kein Mensch wollte ihm glauben. Dann wurde er erwachsen und fuhr selbst zur See, als Sanitätsoffizier der Marine. Inzwischen war allgemein bekannt, dass an dem Küstenabschnitt eine Landungsübung für den D-Day stattgefunden hatte, bei der an einem Tag mehr als siebenhundert Männer ums Leben gekommen waren – bei einem Angriff von deutschen Torpedobooten, die auf den regen Funkverkehr in der Gegend aufmerksam geworden waren. 1984 hob ein anderer Anwohner einen Panzer aus dem Wasser, der nun schwarz wie ein Klumpen Teer in einer Ecke des Parkplatzes von Torcross stand, hinter sich das Naturschutzgebiet von Slapton Ley.
    «Wie kann das denn autobiographisch sein?», fragte Libby. «Er war doch nicht dabei, oder?»
    «Nein, aber er beschäftigt sich schon sein Leben lang damit. Er macht eine persönliche Reportage daraus, schreibt seine eigene Geschichte auf, um zu sehen, wo ihn das hinführt. Ich glaube, er bezieht auch noch andere Erlebnisse mit ein, seine Erfahrungen bei der Marine beispielsweise. Einmal war er auf einem Schiff, dessen Kommandant ein Seeungeheuer gesehen hatte und niemandem außer Andrew davon erzählen wollte. Er kam zu ihm, weil er

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