Das Ende der Geschichten (German Edition)
bisschen schwindlig. Einmal hatte ich schon versucht, einen metafiktionalen Text aus meinem Roman zu machen, aber die Idee mit dem Notizbuch war besser. Mein größtes Problem mit diesem Roman war immer gewesen, dass alles, worüber ich eigentlich schreiben wollte, tabu war, und so dachte ich mir Dinge aus, die dann aber nicht authentisch wirkten. Ich hätte schrecklich gern meine Trennung von Drew und meine Beziehung zu Christopher verarbeitet; ich wollte über Libby und ihre Affäre schreiben. Die Scheidung meiner Eltern war natürlich ein wenig klischeehaft, aber trotzdem spannend, zumindest für mich. Und irgendwie hätte ich auch gern über Rosa geschrieben und über ihre ungesunde Bindung an ihren Bruder Caleb.
Alle Kunstgriffe, die auf der Hand lagen, zum Beispiel sämtliche Namen und Haarfarben zu ändern, hatte ich schon durchprobiert. Aber was wäre, wenn diese Geschichten, diese Menschen – oder zumindest ganz ähnliche Menschen – nur als schwache Umrisse aus den nebligen Räumen zwischen den einzelnen Notizen auftauchen würden, wie lauter kleine Geisterschiffe? Was, wenn meine Protagonistin, die Verfasserin des Notizbuchs, eigentlich nur einen blödsinnigen Genreroman schreiben will, das richtige Leben ihr aber immer wieder dazwischenfunkt? Sie würde auch anderes in dem Buch notieren, Einkaufszettel zum Beispiel, die dann ganz subtil offenbaren könnten, wie ihr Leben wirklich ist. Auf diesen Zetteln könnten beispielsweise Dinge auftauchen, die sie offensichtlich für ihren Freund kauft, irgendwelche trashigen, typisch männlichen Waren wie Bohneneintopf oder große Mengen billiges Klopapier, und die würden dann plötzlich von den Einkaufslisten verschwinden. Man wüsste, dass sie sich getrennt haben, ohne dass ich es explizit zu schreiben brauchte. Vielleicht würde sie sich in dem Notizbuch ja auch tatsächlich Gedanken darüber machen, dass sie nicht über das schreiben konnte, worüber sie eigentlich schreiben wollte. Ich hatte noch zwei alte, abgelehnte Zeb-Ross-Exposés in der Schublade – inklusive echter Notizen –, die ich als eine Art Hintergrundrauschen verwenden konnte: die gescheiterten Ideen meiner Protagonistin. Vielleicht versuchte sie ja auch, etwas über eine simulierte Welt am Ende der Zeit zu schreiben; dann konnte ich sogar Newman unterbringen und sicherstellen, dass die Zeit, die ich mit der Lektüre seines Buchs verbracht hatte, nicht verschwendet gewesen war. Im Grunde konnte ich alles wiederverwerten, was ich je geschrieben und nicht veröffentlicht hatte. Meine Heldin war vielleicht Science-Fiction-Autorin wider Willen und musste in alles, was sie schrieb, einen Science-Fiction-Aspekt einbauen, obwohl sie das gar nicht wollte. Man konnte auch Kritzeleien auf den Notizbuchseiten einbauen: Raumschiffe und Gleichungen. Aber dann verschwindet das alles nach und nach, weil sie sich in einen älteren Mann verliebt und einen Geheimcode entwickelt, um ihre Gefühle für ihn in ihrem Notizbuch festhalten zu können, ohne dabei etwas Konkretes zu enthüllen. Der Leser bekäme genug Hinweise an die Hand, um diesen Code zu entschlüsseln, doch Christopher würde im Leben nicht dahinterkommen. Der ganze Roman wäre ein Hinweis auf sich selbst. Ein Trugbild. Ein halb erinnerter Traum. Genial. Allerdings bedeutete das auch, alles noch einmal neu zu schreiben, von Anfang an. Ich seufzte. Notizbuch . Auch gar kein schlechter Titel. Oder vielleicht: Buchnotizen .
Libby kam kurz nach sieben herein, in gelbem Fischerhut, blauem Anorak und einer roten, wasserabweisenden Hose. Ich hatte mir eine Bloody Mary bestellt, mit einem dicken Stück Sellerie darin, weil ich mir dachte, dass ich mir bei einer doppelten Portion Gemüse im Drink das Abendessen problemlos sparen konnte. Tags zuvor hatte ich meinen letzten Scheck in der Easy-Cash-Filiale in Paignton eingelöst und war mit vierhundertdreiundsechzig Pfund wieder herausgekommen. Wenn man selbst nicht zu den Kunden gehörte, war Easy Cash sicher ein spannender Ort. So aber versuchte ich eigentlich immer nur, gleich wieder zu vergessen, dass ich auch zu den geisterhaften Gestalten zählte, die dort verlegen und verstohlen ein und aus gingen und so gar keine Ähnlichkeit mit den Fotos der farbenfroh gekleideten, strahlend lächelnden Familien an den Wänden hatten. Ich rechnete darauf, dass die restliche Miete noch ein Weilchen warten konnte, wenn Christopher nächste Woche mit Dougie ein Bier trinken ging. Unter den Rechnungen gab es
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