Das Ende der Geschichten (German Edition)
des Wesens der Leere bewusst bleiben. Ich weiß nicht, ob dein Freund genau das sagen wollte, doch auch hier könnte ‹vor dem Nichts stehen› eigentlich bedeuten, dass du einen Ort des Friedens oder des einfachen Lebens finden wirst, einen Ort, an dem du den Stoff des Universums selbst begreifst, nicht nur die Muster, die man daraus schneiden kann. Vielleicht heißt es aber auch, dass du einfach nicht im konventionellen Sinne Erfolg haben wirst …»
«Das sind ziemlich viele komplizierte Wörter», warf ich ein.
«Entschuldige.» Miss Scott lächelte. «Du hast recht. Weißt du, ich habe einen sehr lieben Freund, dem ich nicht helfen kann, an den ich aber viel denke. Ihm hat auch einmal jemand gesagt, er würde irgendwann vor dem Nichts stehen. Er war auf einer strengen Schule, wo es noch einen Rohrstock gab und eiskalte Duschen. Und eines Tages hat der Direktor zu ihm gesagt, er sei ein schrecklich fauler Junge, aus ihm würde nie etwas werden. Hast du den Ausdruck schon mal gehört?»
Ich nickte. «Ja, ich glaube schon.»
«Wenn Erwachsene das sagen, meinen sie damit, dass man nicht berühmt oder erfolgreich wird. Man wird kein Premierminister und bekommt vielleicht noch nicht einmal eine gute Stelle bei einer Bank. In gewisser Weise steht man also vor dem Nichts. Und irgendwo hatte dieser Schuldirektor sogar recht. Mein Freund lebt in einem Wohnwagen und liest den ganzen Nachmittag über Bücher. Nachts arbeitet er in einer Fabrik, und morgens schläft er. Und einmal ist er im Bus durch ganz Indien gereist! Nun kann man natürlich sagen, dass nicht viel aus ihm geworden ist; er ist weder reich noch berühmt, hat keine eigene Familie und kein eigenes Haus, aber er selbst ist mit seinem einfachen Leben sehr zufrieden. Er weiß ungeheuer viel, weil er so viele Bücher liest. Aus den Büchern hat er sogar gelernt, seinen eigenen Wein anzubauen und den Motor seines Autos zu reparieren.»
Ich konnte mir das, was Miss Scott mir da erzählte, nicht richtig vorstellen, aber trotzdem ging es mir irgendwie besser, weil ich mit ihr reden konnte. Kurz bevor es zum Ende der Pause klingelte, trat sie an ihr Pult und nahm ein Fläschchen mit einer kleinen Pipette heraus, das eine Flüssigkeit enthielt. Sie sagte mir, ich solle den Mund aufmachen, dann ließ sie zwei Tropfen der Flüssigkeit auf meine Zunge fallen.
«Jetzt wirst du dich gleich viel besser fühlen», sagte sie.
***
Die seltsamen Geräusche im Nebenhaus hielten an, doch ich litt nicht mehr sosehr darunter. Ich schlief wieder besser, meine Eltern hingegen nicht. Manchmal wachte ich nachts auf und hörte sie diskutieren. In einer Nacht weinte meine Mutter und sagte: «Ich halte das nicht mehr aus. Was machen wir bloß mit den Kindern?» In einer anderen sagte sie ein ums andere Mal mit heller, atemloser Stimme: «Du bist so kalt.» An all das versuchte ich nicht zu denken. Jeden Abend ging ich nach dem Abendessen auf mein Zimmer, um noch eine Stunde allein zu lesen. Das sollte mich auf die Hausaufgaben vorbereiten, die ich im Jahr darauf zum ersten Mal bekommen sollte. Ich hatte für mich beschlossen, diese Stunde zu meiner Zaubertrainingsstunde zu machen. Falls Miss Scott richtig lag und Ruprecht mir tatsächlich Gutes hatte mitteilen wollen, dann konnte es kaum schaden, wenn ich ein wenig zu zaubern versuchte. Wenn ich erst einmal zaubern konnte, dachte ich mir, würde ich alles wieder in Ordnung bringen: Ich würde meine Eltern davon abhalten, sich so viel zu streiten, und ihnen das Leben erleichtern, indem ich beispielsweise dafür sorgte, dass Toby besser schlief und mein Vater keine Kopfschmerzen mehr hatte. Eine Streichholzschachtel, die ich von unten mit heraufgebracht hatte, legte ich auf meinen Schreibtisch und konzentrierte mich darauf. Doch während ich versuchte, sie zum Fliegen zu bringen, dachte ich die ganze Zeit an zu viele andere Dinge, und es funktionierte natürlich nicht.
Eines Samstags ging meine Mutter mit Rosa und mir auf den Flohmarkt neben der Kirche am anderen Ende unserer Straße. Ich trug damals nur Kleider vom Flohmarkt und brauchte eine neue Jeans. Toby saß in seinem Sportwagen und lutschte an einem Stück Zwieback, und Mum gab mir und Rosa je zwanzig Pence. Damit durften wir uns angeblich kaufen, was wir wollten, wobei wir ihr natürlich alles erst einmal zeigen mussten, bevor wir es bezahlten. In der Vergangenheit hatten andere Kinder, die wir kannten, auf solchen Flohmärkten nahezu alle Arten von unangebrachten Sachen
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