Das Ende der Geschichten (German Edition)
gewissen narrativen Sog besaß, und ich tippte ihn ab und setzte ihn unter die Liste der Probleme mit dem Roman (auf ein Neues) . Hinterher sah ich mir an, was ich da vor mir hatte. Bislang war mein neuer Roman eine kitschige Liebesgeschichte mit verwirrenden, metafiktionalen Einsprengseln. Ich löschte den Abschnitt über das Liebesobjekt wieder und kopierte ihn in eine neue Datei, die ich Weitere Textstücke nannte. Dann überprüfte ich noch einmal die Wortzahl, die jetzt wieder bei überschaubaren vierzig Wörtern lag. Anschließend wusste ich nicht mehr weiter und beschloss, die Bibliothek Bibliothek sein zu lassen und stattdessen meine Post aus dem Postfach in Totnes zu holen; darin bestand die neue Vereinbarung mit Christopher. Vierzig Wörter – das war mit Sicherheit der ultimative Negativrekord für einen Arbeitstag, den nicht einmal die schwerfälligsten unter den Autoren der Moderne unterbieten konnten. Ich überlegte, ob Zebs Entstellung vielleicht das Ergebnis einer Schreibblockade aus früheren Zeiten sein konnte, bevor er sich wundersamerweise in der Lage fand, vier Romane pro Jahr zu schreiben. Vielleicht hatte er sich ja mit demselben Bleistift beide Augen ausgestochen?
***
Oscar hatte die versprochenen Bücher geschickt. In einem riesigen Postsack erwarteten sie mich auf dem Postamt von Totnes, zusammen mit einem Brief von meinem Agenten, der mir sehr nach Tantiemenabrechnung aussah und den zu öffnen ich es nicht besonders eilig hatte. Sie bildeten einen merkwürdigen Gegensatz, der dünne Umschlag und der große graue Sack, und auf dem Weg bergab zurück zum Wagen kam ich mir vor wie eine Einbrecherin, die im Begriff ist, ihr Diebesgut wieder zurückzubringen und ein Entschuldigungsschreiben beizulegen. Wieder einmal kam mir eine Zen-Geschichte in den Sinn. Ein Zen-Meister wird in seiner Hütte von einem Einbrecher überrascht. Doch es gibt bei ihm nichts zu stehlen: Er besitzt nur die Kleider, die er am Leib trägt. Und weil er Mitleid mit dem Einbrecher hat, der einen so weiten Weg zurückgelegt und sich so viel Mühe gegeben hat, bietet der Zen-Meister ihm die Kleider an. Der Einbrecher nimmt sie und verschwindet damit in der Nacht, und der Zen-Meister blickt zum Himmel empor und denkt sich: «Der Arme. Könnte ich ihm nur auch noch diesen wunderschönen Mond schenken!»
Als ich die Bücher ins Auto lud, war es kurz vor vier; noch eine gute Dreiviertelstunde, dann konnte ich Christopher überraschen und ihn an der Bushaltestelle abholen. Ich ging den Hügel wieder hinauf und stöberte eine Zeit lang im Buchladen, schaute nach Büchern über die Titanic und versuchte herauszufinden, welches Byron-Gedicht Rowan wohl zitiert hatte, indem ich wahllos Seiten aus Don Juan und danach aus Childe Harold’s Pilgrimage aufschlug. Etwa beim vierten Durchblättern entdeckte ich das Zitat in Childe Harold’s Pilgrimage . Ich überlegte, mir das Buch zu kaufen, aber es kostete fast zehn Pfund und schien mir eine lange, tragische Geschichte in Versen zu sein. Genau die Sorte Buch, die ich immer würde lesen wollen, ohne es jemals zu schaffen. Schließlich hatte ich es ja nicht einmal geschafft, einen Agatha-Christie-Roman zu lesen, der Rowan etwas bedeutete.
Eigentlich hatte ich vorgehabt, im Happy Apple etwas fürs Abendessen einzukaufen, und viel mehr gab das Budget nicht her. Trotzdem ging ich ins Barrel House und gönnte mir einen großen Latte Macchiato mit Sojamilch; irgendwo zu Hause im Küchenschrank stand sicher noch eine Dose Bohnen. Auf einem Tisch in der Ecke lag ein Stapel Zeitungen, darunter auch die Sunday Times von der Woche zuvor. Auf dem Titelbild prangte ein Foto von Rosa. Sie hockte im Schneidersitz auf einem Holztisch und sah so tiefsinnig in die Kamera, wie sie das mit ihren blassen, verträumten Augen fertigbrachte.
Das Interview war auf einer Doppelseite in einer der Beilagen abgedruckt. Eines ihrer Zitate, das besonders hervorgehoben war, sprang mir gleich ins Auge: «Natürlich glaube ich an Geister.» Es war mir nie in den Sinn gekommen, dass sie mit der Geschichte vom Poltergeist ihrer Familie je an die Öffentlichkeit gehen würde. Doch hier erzählte sie davon, wie verängstigt sie alle gewesen waren, als jede Nacht die Bücher durch das Haus flogen, und dass sie selbst es bis heute nicht über sich brachte, einen zerbrechlichen Ziergegenstand zu kaufen. Auch von den Recherchen für ihre Rolle in Ein Spuk in der Nacht berichtete sie, in deren Verlauf sie noch mehr zu der
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