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Das Ende der Geschichten (German Edition)

Das Ende der Geschichten (German Edition)

Titel: Das Ende der Geschichten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Scarlett Thomas
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Überzeugung gelangt war, dass tatsächlich Unerklärliches zwischen Himmel und Erde existierte. «Irgendwann im Lauf der Geschichte hat es doch auch wie Zauberei ausgesehen, ein Feuer anzuzünden», sagte sie. «Oder Radio zu hören, zu telefonieren und das Auto mit der Zentralverriegelung abzuschließen. Solange wir nicht durchschauen, welche auslösenden Kräfte ihnen zugrunde liegen, erscheinen uns alle möglichen Dinge wie Zauberei.» Das Interview folgte den verschlungenen Pfaden von Rosas Leben und Karriere bis heute und konzentrierte sich bei beidem auf die übernatürlichen Aspekte. Erst ganz am Schluss kam noch ein Abschnitt über Anna Karenina und die Dreharbeiten, die im Mai beginnen sollten. Ich las und überflog den Artikel so lange, bis ich auf das Detail stieß, das meine Mutter mir offenbar vorenthalten wollte: Die Rolle des Wronski sollte Andrew Grey übernehmen. Drew. Dann waren sie also doch noch zusammengekommen. Oder standen zumindest kurz davor. Natürlich wusste ich ganz genau, warum meine Mutter mir davon nichts gesagt hatte, aber ich war doch erstaunt, dass sie den Poltergeist nicht erwähnt hatte. Dann wurde mir klar, dass wir über diese Episode seit 1980 nicht mehr gesprochen hatten, als sie bizarrerweise zu einer der «unüberbrückbaren Differenzen» im Scheidungsverfahren meiner Eltern geworden war.
    Christopher war nicht an der Bushaltestelle und auch nicht an der Projektbaustelle, als ich dort vorbeifuhr. Über die Nebenstraßen, die allgemein nur die «Lanes» genannt wurden, fuhr ich in der Dämmerung zurück nach Dartmouth. Die Lanes waren uralte Wege, auf denen wahrscheinlich schon die Leute gereist waren, die das Domesday Book zusammengestellt hatten. Zu beiden Seiten standen Hecken und kleine Hexenhäuschen, aus deren Schornsteinen sich Rauch kringelte. Wenn ich über die Lanes fuhr, befiel mich häufig ein merkwürdiges Gefühl, als wäre ich wieder in jenem geheimnisvollen Wald von 1978, von dem ich immer noch nicht sicher war, ob ich ihn mir nicht doch nur eingebildet hatte. Man fühlte sich fast wie eine Romanfigur in einer Welt, in der es noch andere Dinge gab als das Standardmodell der Teilchenphysik und die Evolutionstheorie – einer Welt, in der alles möglich war und alles einen neuen, geheimnisvollen Sinn ergab. Ich fragte mich, wo Christopher wohl stecken mochte. Wahrscheinlich war er schon zu Hause und fragte sich, wo ich wohl steckte. Wenn ich ihm von meinem Versuch erzählte, ihn abzuholen, würde er sich freuen. Doch sobald ihm dann klar wurde, dass es ein vergeblicher Versuch gewesen war, würde er traurig sein. Vielleicht war er ja bei einem Unfall auf der Projektbaustelle ums Leben gekommen und deshalb nicht an der Bushaltestelle gewesen. Ich ertappte mich bei der Überlegung, dass ich in diesem Fall wieder frei wäre. Natürlich verbannte ich den Gedanken sofort wieder aus meinem Kopf, doch gegen die Tatsache, dass er mir überhaupt gekommen war, konnte ich nichts unternehmen.
    ***
    Normalerweise kam Christopher immer gegen halb sechs nach Hause. Aber um sechs fehlte immer noch jede Spur von ihm. Bis dahin hatte ich seine anhaltende Abwesenheit kaum bemerkt, weil ich viel zu sehr mit dem Inhalt von Oscars Postsack beschäftigt war. Wäre unversehens jemand ins Wohnzimmer gekommen, er hätte mit Sicherheit gedacht, ich hätte den Verstand verloren. Vor mir türmten sich drei gewaltige Stapel von Esoterik-, New-Age- und Ratgeber-Literatur, die ich grob in die Kategorien «Blöd», «Unfassbar blöd» und «Albern, aber gut gemeint» unterteilt hatte. Warum hatte man eigentlich immer dann keinen New Scientist oder sonst etwas Vernünftiges zur Hand, wenn man es dringend brauchte? Dort vor mir stapelte sich der Wahnsinn in so vielen verschiedenen Gestalten, dass mir fast die Luft wegblieb. Selbst B. wirkte verblüfft und hatte es bereits einmal geschafft, den «blöden» Stapel durch Schwanzwedeln zum Einsturz zu bringen. Für mich war diese ganz spezielle Art, wie B. mit dem Schwanz wedelte, gleichbedeutend mit der Frage: «Was in aller Welt machst du da eigentlich?» Es war nur ein halbes, angedeutetes Wedeln, das anfing und dann wieder aussetzte wie ein stotternder Propeller. Ich schichtete den «blöden» Stapel neu auf und fragte mich dabei, ob es wohl tatsächlich so viele Menschen gab, die sich vom heutigen Leben mit seinen elektromagnetischen Feldern, seinen Besprechungen und Kinderbetreuungsproblemen, seiner Umweltverschmutzung und Strahlenbelastung,

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