Das Ende der Geschichten (German Edition)
Campbell und Carl Jung beeinflusst. Newman gab beide auch als Quellen an. An einer Stelle schrieb er: «Was Jung als das ‹kollektive Unbewusste› bezeichnet, das nenne ich den Omegapunkt, obwohl ich für meine weiteren Hypothesen über ein bewusstes, unendliches Wesen, aus dem alle Archetypen hervorgehen, natürlich auch Frank Tiplers Berechnungen verwendet habe. Im Omegapunkt werden wir alle zu Plagiatoren: Wir erkennen die grundlegenden Archetypen und nutzen sie für unsere eigenen Tragödien und Träume fiktiver und sonstiger Natur. Wäre es denkbar, dass der Omegapunkt die ersten Geschichten für uns entwickelt hat, um uns zu zeigen, auf welche Weise wir leben sollen und auf welche Weise nicht? Wenn wir auf einer unserer vielen Abenteuerreisen einem weisen alten Mann begegnen, begegnen wir dann womöglich einer Manifestation des Omegapunkts?»
Newmans Argumentation war nicht neu. Das Leben, erklärte er, ist eine große Queste, und jeder Einzelne von uns ist der Held. Der Sinn des Lebens liegt darin, die eigene Queste zu vollenden, und damit das gelingt, muss man sich darüber klar werden, was man am meisten in irgendeiner entlegenen Höhle zu finden wünscht. Anschließend muss man sich die nötigen Waffen besorgen, losziehen, die Höhle ausfindig machen und den gewünschten Gegenstand herausholen. Was immer sich einem dabei in den Weg stellt, ist ein Monster. Wie leicht sich das alles anhörte und wie unwahrscheinlich es schien, dass die Höhle sich als zahnbewehrte Vagina entpuppen und man wegen irgendeines lachenden Vogels daran scheitern könnte. Doch Newman löste sein grundlegendes Paradoxon nicht nur nicht auf, er nahm es anscheinend nicht einmal zur Kenntnis: Er verlor kein Wort darüber, wie man herausfindet, ob man selbst nun Held oder Monster ist. Schließlich mussten doch manche Lebewesen Monster sein – wie sollte man die anderen denn sonst als Helden definieren? Anstatt sich dieser Problematik zu widmen, verbrachte Newman geraume Zeit damit, die griechische Tragödie als «verdorben» und die Moderne als «jämmerlich» abzutun. Vor allem seine Lektüre des König Ödipus war erstaunlich. In Newmans Welt war Ödipus nicht mehr ausdrucksstarkes Symbol für den Fluch des Wissens und des Begehrens, sondern stattdessen ein gescheitertes Projekt, ein «Game Over», eine abgebrochene Queste. Um ein ordentliches Happy End zu erzielen, müsste Ödipus sterben, wieder geboren werden und noch einmal ganz von vorn anfangen. Es reicht nicht aus, festzustellen, dass man selbst das Monster ist, und sich selbst zu besiegen: Das Monster muss von außen kommen, man muss es töten und weiterziehen, bis man seinen Schatz und seine Prinzessin erbeutet hat, woraufhin man erleuchtet wird und auf den Weg der Vollkommenheit gelangt. Das Ganze war eine so eklatante Fehleinschätzung des Wesens der Tragödie, dass ich am liebsten irgendwem eine Mail geschrieben und mich bitterlich darüber beklagt hätte. Aber wer kam dafür in Frage? Nur Rowan. Ich seufzte.
Newmans Buch gab mir das Gefühl, meinen Job als Autorin gleich an den Nagel hängen zu müssen. Was er über die konventionellen Erzählstrukturen der Queste, die Komödie und den Ritterroman schrieb, stimmte größtenteils: Selbst die Handlung des Zen-Romans, den ich damals für Orb Books begutachtet hatte, wurde von dem Wunsch nach Veränderung und einem besseren Leben für seine Figuren angetrieben. Anfangs wollen die Protagonisten fort von der Insel, doch dann erkennen sie, dass sie die Erleuchtung erzielen und alle Wünsche abstreifen können, wenn sie nur bleiben – und so wird nun paradoxerweise das ihr größter Wunsch. Jede Erzählung handelt von Menschen, die ihr Leben verbessern wollen, und davon, wie ihnen das versaut wird – entweder dauerhaft durch ihr eigenes Zutun oder vorübergehend durch das der Eltern oder einer vergleichbaren Instanz. Den Schriftstellern, die an meinen Workshops teilnahmen, sagte ich immer, sie müssten nichts weiter tun als einen dieser Fäden nehmen, ihn verknoten sowie ihn zum Mittelpunkt ihrer Erzählung machen und dann nach Belieben andere Fäden hinzufügen und ineinanderweben, bis das entstehende Material wie eine Einheit wirkt. Dabei hatte ich immer die Shetland-Muster im Hinterkopf, die Libby früher oft gestrickt hatte. Manchmal zeigte ich meinen angehenden Ghostwritern auch Bilder von den entsprechenden Strickarbeiten, damit sie begriffen, was ich meinte. Dann lachten sie über die Pullover und Wolljacken mit
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