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Das Ende der Geschichten (German Edition)

Das Ende der Geschichten (German Edition)

Titel: Das Ende der Geschichten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Scarlett Thomas
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natürlich würde ich letztlich doch hinfahren und alles irgendwie wieder in Ordnung bringen. Christopher würde sich freuen, dass ich kam, um ihn zu retten, und das als theatralischen Liebesbeweis ansehen. Anschließend würde ich ihm von dem Geld erzählen und ihm sagen, dass wir jetzt tatsächlich auf einen Bauernhof ziehen konnten, und das würde ihn unglaublich glücklich machen. Mit einem Mal bekam ich so wenig Luft, dass ich anhalten musste. Ich schaltete die Scheinwerfer aus und blieb ein paar Sekunden lang in fast vollständiger Schwärze sitzen. Dann wurde mir klar: Ich wollte Christopher gar nicht von dem Geld erzählen. Ich würde ihm nur sagen, dass ein bisschen was da war. Doch den großen Betrag auf meinem Bankkonto, den würde ich geheimhalten. Es würde keinen Bauernhof geben.
    Peter, Christophers Vater, lebte in einer großen, weitläufigen Wohnung direkt über dem vegetarischen Café, das er in Totnes betrieb. Josh wohnte noch bei ihm, im Dachzimmer, einem perfekt quadratischen Raum mit zahllosen Regalen, in denen die Bücher nach Größe sortiert waren, mit einem Schlagzeug und einem makellos sauberen Schreibtisch, auf dem nur ein weißes Notebook stand. Die übrige Wohnung erstreckte sich über zwei Stockwerke. Auf den glänzenden Parkettböden lagen große Teppiche; überall fanden sich Wandbehänge, Pflanzen, Skulpturen, und mitten in dem geräumigen, in Dunkelrot gehaltenen Wohnzimmer stand, wie ich beim Eintreten feststellte, eine Harfe. Millys Harfe.
    Außer Peter, der mich durch das Café nach oben geführt hatte, war niemand da. Nun stand er neben der Harfe und fuhr sich mit den Fingern durch das lockige weiße Haar. Er hatte sich bereits bei mir bedankt, dass ich gekommen war. Jetzt wollte er wissen, ob Josh mir schon erzählt hatte, was passiert war.
    «Nicht sehr detailliert», antwortete ich. «Wo ist Christopher denn?»
    «Die Jungs sind schon auf dem Weg ins Krankenhaus. Josh bringt Christopher mit meinem Wagen hin.»
    «Ins Krankenhaus?»
    «Christopher hat sich an der Hand verletzt. Ziemlich schwer, schien mir.»
    «Und wie hat er …?»
    «Er hat mit der Faust gegen die Wand geschlagen.» Peter wandte den Blick ab und berührte die Harfe. «Milly ist auch weg.»
    Das erschien mir völlig widersinnig. «Aber doch nicht ins Krankenhaus?»
    «Nein. Sie ist einfach gegangen. Wohin, weiß ich nicht.»
    «Aber sie kommt doch zurück?»
    «Ich weiß es nicht.» Er zuckte die Achseln, dann fiel er in sich zusammen wie ein Sack, der wieder auf den Boden gestellt worden war, nachdem man den Inhalt einmal durchgeschüttelt hatte. Nach ein paar Sekunden fragte er: «Du wirst wohl zu den Jungs ins Krankenhaus fahren, oder?»
    «Ja, ich denke schon. Ist mit dir alles in Ordnung?»
    «Wahrscheinlich dauert es wieder ewig in der Notaufnahme. Als ich das letzte Mal mit Josh wegen seinem Fuß dort war, haben wir mindestens drei Stunden gewartet. Ich habe ganz vergessen, sie zu fragen, ob sie genug Kleingeld für den Automaten haben. Josh wird immer so durstig, wenn er sich aufregt.»
    Peter redete noch einige Zeit darüber, wie lange man wohl warten müsse, bis man geröntgt würde, wie lange er zuletzt mit Josh aufs Röntgen habe warten müssen, ob es spätabends noch länger dauere und dass Christopher ja nun nicht arbeiten könne, wenn die Hand wirklich gebrochen sei. Die ganze Zeit, während er sprach, behielt er die Hand an der Harfe und strich einmal so sanft über eine Saite, dass sie kein Geräusch von sich gab.
    «Was genau ist eigentlich passiert?», fragte ich, als er schließlich aufhörte zu reden.
    «Das werden dir die Jungs bestimmt erzählen. Christopher wird es dir erzählen. Ich kann zwar nicht behaupten, dass mir das alles ein völliges Rätsel wäre, aber ich bin es einfach viel zu sehr leid, um mich noch um Verständnis zu bemühen.»
    «Er war in letzter Zeit ziemlich deprimiert», sagte ich.
    «Er war schon immer deprimiert. Schon vor dem Tod seiner Mutter. Sie hat ihn immer I-Ah genannt. Das hat er dir bestimmt nie erzählt. Wahrscheinlich gibt es ja in jeder Familie einen I-Ah. Einmal, als …» Doch dann beendete Peter den angefangenen Satz nicht; stattdessen seufzte er und strich noch einmal über die Harfe. «Ich hole dir etwas Kleingeld aus der Kasse», sagte er schließlich. «Das kannst du mitnehmen.»
    Wir gingen wieder die Treppe hinunter, zurück ins Café, wo es nach gutem Kaffee und Vollkorngebäck duftete. Gleich neben der Kasse hing ein Schwarzes Brett mit

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