Das Ende der Geschichten (German Edition)
den riesigen Schneekristallen und Rentieren, und das schuf ein Zusammengehörigkeitsgefühl innerhalb der Gruppe.
Ich klappte das Buch zu, machte mir noch einen Kaffee und schälte mir wieder eine Mandarine. Oben drin steckte eine zweite Mini-Mandarine, als hätte die Frucht noch eine winzige Version ihrer selbst zur Welt gebracht, während sie am Baum hing. Wo steckte Christopher? Eigentlich hätte ich längst seinen Vater anrufen müssen. Neben dem Wasserkocher lag immer noch die blöde Tantiemenabrechnung. Ich konnte die Dinger nicht ausstehen: Sie waren komplett unverständlich, und Geld sprang auch keines dabei heraus. Manchmal informierten sie mich darüber, dass in Südafrika drei Exemplare eines Buchs von mir verkauft worden seien sowie weitere elf in Kanada. Hurra! Als ob das Leben nicht auch so schon enttäuschend genug wäre. Trotzdem öffnete ich den Umschlag, wie ich es irgendwann immer tat; vielleicht wurde mir ja diesmal mitgeteilt, dass ich mit einem bestimmten Titel bald die Gewinnschwelle erreichen würde, auch wenn er längst vergriffen war. Doch als ich die einzelne Briefseite herauszog, sah ich auf den ersten Blick, dass es keine normale Tantiemenabrechnung war, sondern eine Überweisungsbestätigung meiner Agentur. Harlequin Entertainment , stand darauf, £ 28 000, abzüglich Provision von £ 2800. Überweisungssumme: £ 25 200.
«Was zum Geier …?», entfuhr es mir leise. Falls das stimmte – was natürlich völlig unmöglich war –, dann könnte ich die Stufen hinuntergehen und mir Fish and Chips holen: Dann könnte ich mir auch so viele Mandarinen kaufen, wie ich wollte, und Libby am Samstagabend einen Blumenstrauß und eine Flasche Wein mitbringen, ich könnte mir etwas zum Anziehen kaufen, das Auto reparieren lassen und weiß der Himmel, was sonst noch alles. Ich müsste mir keine Sorgen mehr machen, wovon ich die Fahrt nach London zur Lektoratssitzung im März bezahlen sollte. Ich könnte mir einen neuen Füller kaufen. Ich könnte mein Handyguthaben aufladen. Ich könnte mein E-Mail-Konto wieder aktivieren, die Miete für ein paar Monate im Voraus überweisen und vielleicht endlich einmal wieder eine Nacht durchschlafen. Vielleicht könnte ich sogar mit meiner Mutter und Taz in Urlaub fahren und ihnen die Reise bezahlen. Sie mussten ihr Haus immer wieder neu belasten, um Toby zu unterstützen, und obwohl Taz periodisch sehr viel Geld mit einem seiner Bilder verdiente, hatte er doch auch oft monatelang keine Einnahmen. Ich könnte vielleicht doch nach Griechenland fahren, ganz allein, und mir vorher sogar noch einen Bikini kaufen. Ich würde endlich ohne weitere Ablenkungen an meinem Roman schreiben können. Vielleicht könnte ich mir sogar irgendwo einen Büroplatz leisten und tagsüber dort arbeiten anstatt in der Bibliothek. Aber wahrscheinlich stimmte es sowieso nicht. Wahrscheinlich kam gar kein Geld. Andererseits hatte ich ja tatsächlich mit Fred zu Mittag gegessen, und sie hatte mir alle möglichen Versprechungen gemacht; ich hatte ihr nur einfach nicht geglaubt.
Als die Lottoagentur National Lottery gegründet wurde, studierte ich gerade in Brighton und fuhr an den meisten Wochenenden heim nach London, weil ich bei meiner Mutter umsonst verpflegt wurde und es dort im Winter wärmer war. Taz erklärte, in seinen Augen sei Lottospielen reine Zeitverschwendung und treibe Schindluder mit dem menschlichen Optimismus. Meine Mutter und ich tippten trotzdem beim ersten Mal mit und brachten fast den ganzen Nachmittag vor der Ziehung damit zu, uns auszumalen, was wir mit den Millionen, die eine von uns beiden zwangsläufig gewinnen würde, anfangen sollten. Wir träumten von großen Villen mit Swimmingpools, von Weltreisen und all den üblichen Dingen. Aber es erwies sich als sehr viel spannender, darüber nachzudenken, für welche wohltätigen Zwecke wir einen Teil des Geldes verwenden würden. Meine Mutter meinte, sie würde ein Frauenhaus gründen, mit Designermöbeln und Luxusartikeln im Bad. Ich sagte, ich wolle mir eine Studentin suchen, die in derselben Lage war wie ich – eine Einserkandidatin ohne große berufliche Aussichten, die keine Ersparnisse hatte und kein eigenes Haus –, und ihr hunderttausend Pfund schenken. Als ich nach Dartmouth zog, hatte ich schon jahrelang nicht mehr Lotto gespielt, konnte mir aber immer noch nicht erklären, weshalb bei Jackpot-Ziehungen immer sehr viel mehr Leute mitmachten als sonst. Fünf Millionen konnten das Leben doch kaum
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