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Das Ende der Geschichten (German Edition)

Das Ende der Geschichten (German Edition)

Titel: Das Ende der Geschichten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Scarlett Thomas
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Christopher benutzt das Zimmer schon seit Jahren kaum noch, außer damals, als ihr bei uns gewohnt habt. Wie du dich sicher erinnerst, hat er da noch die Poster von der Europameisterschaft 96 und seine alten Oasis-Kassetten. Milly soll sich dort ein Arbeitszimmer einrichten und ihre Musikbücher schreiben – das ist Dads großartiger Einfall gewesen. Eigentlich muss er ja gewusst haben, dass Christopher wegen dem Wandgemälde ausflippen wird. Als Christopher heute plötzlich vor der Tür stand, war Milly gerade beim Kochen, und Dad hat ihn eingeladen mitzuessen. Nach dem Essen kam das Gespräch dann auf sein Zimmer, da ist er an die Decke gegangen. Ich glaube, im Ansatz verstehe ich das sogar. Es war echt ein bisschen taktlos von Dad, sich ausgerechnet dieses Zimmer auszusuchen.»
    Das Wandgemälde hatte Christophers Mutter für ihn gemalt, kurz vor seiner Geburt. Es zeigte einen Wald, ein verwunschenes Schloss auf einem entlegenen Hügel und einen braunen, erdigen Pfad, der dort hinaufführte. Im Vordergrund stand ein großes weißes Einhorn mit geneigtem Kopf, als wollte es gestreichelt werden. Vor einigen Jahren, als wir noch darauf warteten, unser jetziges Haus beziehen zu können, hatten Christopher und ich ein paar Wochen bei Peter und Josh gewohnt. Wir schliefen zusammen in Christophers altem, durchgelegenem Einzelbett, obwohl Peter uns immer wieder das Gästezimmer anbot. Jeden Abend zog ich mich vor dem Wandgemälde aus und stellte mir vor, wie es wohl sein würde, schwanger zu sein, ein Kind zur Welt zu bringen und nicht mehr nur für sich selbst zu träumen, sondern auch für dieses Kind. Ich hatte mir nie Kinder gewünscht, doch nun betrachtete ich dieses Wandgemälde und versuchte, einen Kinderwunsch zu entwickeln. Es gelang mir nicht. Und es hätte ja auch nichts gebracht, selbst wenn ich es tatsächlich geschafft hätte. Christopher wollte auch keine Kinder, und selbst damals schon hatten wir so gut wie nie Sex.
    «Einmal habe ich ihn nach diesem Wandgemälde gefragt», sagte ich jetzt zu Josh. «Er hat nicht viel dazu gesagt. Es handelte sich offenbar um eins dieser Dinge, die ich instinktiv nicht hätte erwähnen dürfen.»
    «Es gab ständig Ärger deswegen», erzählte Josh. «Als Jugendlicher fand er es kindisch und hat es mit Postern zugehängt. Ich weiß noch, dass ich damals gern mit ihm das Zimmer getauscht hätte, um das Wandgemälde zu bekommen, aber er meinte nur: ‹Das ist meins›, und hat es verhängt. Als er nach ihrem Tod zurück nach Hause kam, hat er die Poster alle wieder abgenommen. Nur die; ansonsten hat er an dem Zimmer nichts verändert. Ich hänge ja auch an dem Wandgemälde, aber es muss doch irgendwie weitergehen. Ich glaube, Dad möchte einfach nur sein Leben weiterleben. Und so etwas kann man eben nicht für immer behalten. Wenn wir die Wohnung verkauft hätten oder das Haus abgebrannt wäre, dann wäre es ja auch weg. Und Erinnerungen sind vielleicht sogar besser. Dad hat sogar angeboten, eine ganz detaillierte Digitalaufnahme von dem Wandgemälde zu machen und sie für Christopher vergrößern und rahmen zu lassen.»
    «Hm. Jetzt ist mir allerdings klar, warum er ausgerastet ist.»
    «Er ist ganz ruhig nach oben gegangen, und dann hören wir plötzlich lautes Ratschen und Poltern, und als wir hoch sind, sehen wir, dass er Sachen in seinem Zimmer zerschlägt, Poster von der Wand reißt und gegen die Möbel tritt. Am Ende hat er noch gegen die Wand geschlagen, direkt neben dem Einhorn, was ich irgendwie bezeichnend fand, auch wenn es natürlich keinen interessiert, was ich denke. Anschließend hat er Milly angeschaut und zu ihr gesagt: ‹Und du bist verdammt nochmal nicht meine Mutter.› Als ob es darum überhaupt gehen würde. Dann ist er abgehauen, und ich habe dich angerufen. Ich habe ihn schließlich im Pub gefunden, mit blutüberströmter Hand; irgendso ein Typ wollte ihn rausschmeißen, von wegen Aids-Risiko. Es war furchtbar. Du weißt ja, wie ich Blut hasse. Als wir ihn ordentlich verbunden hatten, habe ich mir Dads Wagen geliehen und ihn hierher zum Röntgen gebracht. Es ist ein Albtraum da drinnen. Viel zu viele Uhren, viel zu viel Unordnung.»
    «Ich wusste nicht mal, dass er heute überhaupt zu euch wollte», sagte ich.
    «Nein. Er kommt eben einfach so vorbei. Das macht er öfter. Meistens mittags.»
    «Und wie geht’s dir?»
    «Ganz gut. Dad allerdings nicht so.»
    «Ich weiß. Er sagt, Milly ist weg.»
    «Die kommt schon wieder. Aber sie sollten

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