Das Ende der Liebe
Schon viele Orte der Begegnung – Bars und Diskos, Chatrooms und Darkrooms – garantieren das gemeinsame Wissen und Interesse. Es gibt Don-Juan-Orte und Don-Juan-Institutionen, Don-Juan-Vereine und Don-Juan-Unternehmen, Don-Juan-Routinen und eine Don-Juan-Moral. Es gibt sie, weil es Donna Juana gibt – weil aus Einem Zwei geworden sind, und aus Zweien unendliche Viele.
Don Juan begehrte die Unendlichkeit gegen den Widerstand der Welt. Er musste permanent reisen und lügen, Entfernungen und Skrupel überwinden, um Frauen zu finden, sie zu gewinnen. Die Orte begrenzten ihn wie die herrschende Moral. Er traf auf einzelne Frauen, nahm die Objekte seiner Verführung noch als Seltenheiten wahr, war angewiesen auf Glück und Gelegenheit. Die Unendlichkeit seiner Lust musste immer wieder die Endlichkeit seiner Möglichkeiten überwinden.
Heute, da die Frauen das Gleiche tun wie die Männer, trifft unendliches Verlangen auf unendliche Möglichkeiten. Der Jäger jagt nicht mehr ein seltenes Wild. Das Wild ist zahlreich und jagt auch den Jäger. Die Tatsache, dass die Frauen das Gleiche tun, verändert alles. Von ihnen geht die Revolution aus. Dennoch ist es eine Revolution ohne Absicht, ohne Subjekt. Denn die Frauen fallen nur auf die Möglichkeiten zu wie die Männer. Jedes Fressen ist ein Gefressenwerden.
Es bedarf also, viertens, nicht mehr des Widerstandes, um ein Don Juan zu sein, sondern es bedürfte des Widerstandes, keiner zu sein. Damit steht Don Juan – und steht Donna Juana – nicht mehr für ein Aufbegehren, sondern für Anpassung, nicht mehr für Aktivität, sondern für Passivität.
[138] Die freien Menschen mögen sich selbst für aktiv halten, wenn sie ihre Chancen nutzen , dagegen für passiv, wenn sie es nicht tun. Sie mögen in eine Depression verfallen, weil das Leben ungenutzt an ihnen vorbeizieht . Tatsächlich aber ist die Aktivität eines Don Juan, einer Donna Juana von heute nur noch Pseudo-Aktivität. Ein Don Juan im ursprünglichen Sinn, im Sinn der Rebellion und Herausforderung der Welt, das wären heute ein Mann, eine Frau, die die Möglichkeiten vorbeiziehen ließen. Ihre Kraftanstrengung wäre Zurückhaltung, ihre Aktivität Nichtstun. Doch eben das ist unmöglich geworden, weil alle äußere und innere Zurückhaltung verschwunden ist, die Möglichkeiten absolut sind.
Es reichte auch nicht aus, nur den billigen Versuchungen zu widerstehen. Die Welt, deren Eigenschaft die Unendlichkeit ist, macht, fünftens, auch und besonders jene zu Don Juans und Donna Juanas, die die große Liebe, die Liebe fürs Leben suchen.
Denn es sind nicht nur billige Versuchungen, sondern die guten, respektablen, die vernünftigen Möglichkeiten, die die freien Menschen weiter suchen lassen. Don Juan und Donna Juana werden nicht mehr weiter getrieben nur vom Gedanken an die nächste Schönheit, sondern von der Möglichkeit eines Individuums, das noch besser zu ihnen passt. Es ist keine Leichtigkeit mehr, die sie zur endlosen Suche treibt, sondern Ernsthaftigkeit – der ernsthafte, wie eine Arbeit betriebene Versuch, den Richtigen, also Besten zu finden.
Sie sind nicht nur Sex- und Abenteuersuchende, sondern Liebes- und Partnersuchende – Don Juan, Donna Juana wider Willen . Keine Revolutionäre, Kommunarden, die auf die freie Liebe schwören (auch wenn sie von ihr träumen, sie in der Fantasie praktizieren), sondern Menschen, die treu sein wollen, die heiraten. Immer wieder.
Das Glück des Don Juan bestand ironischerweise darin, [139] eine Frau zu finden. Das Unglück der freien Menschen besteht darin, dass sie immer zugleich viele finden. Sie stoßen schon im Raum auf die Mehrzahl, die sich für den alten Don Juan nur im Lauf der Zeit ergab. Es ist kein Plural mehr ihres Lebens, ihrer eigenen Erfahrung, sondern ein Plural der Welt. Don Juan musste nicht wählen. Er hätte es auch nicht gekonnt. Die freien Menschen aber müssen es – und da sie es nicht können, zeigt sich ihr Don-Juan-Sein gerade im Nicht-Wählen, in der Entscheidungsunfähigkeit.
Die Unendlichkeit kennt keine Gewinner, nur Verlierer. Auch die sogenannten Gewinner bekommen ja nicht, was sie ersehnen. Auch die Gewinner können ihr Gewolltes nicht in der Wirklichkeit besitzen, genauso wenig wie die Verlierer. Diese besitzen die Unendlichkeit so wenig wie jene. Auch die Gewinner gucken permanent den unendlich vielen möglichen Lebens- und Sexualpartnern nach. Auch sie sind Voyeure, traurige Zaungäste der Unendlichkeit. Ja, sie glotzen und
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