Das Ende der Liebe
früher nur die Männer etwas vorweisen mussten, und dieses Etwas lediglich beruflich-gesellschaftlicher Natur war, müssen heute beide, Männer und Frauen, sowohl eine fertige berufliche als auch eine fertige private Existenz vorweisen. Die vollständige Gleichheit zweier Partner soll auch die Gleichheit der Vollständigkeit ihrer Leben sein. Erfülltes Leben sucht erfülltes Leben. Die endlosen Fragebögen machen nur deshalb Sinn, weil sie davon ausgehen, dass beide bereits über vollständige Existenzen verfügen, die sich also auch abfragen und vergleichen lassen. Die Menschen dagegen, die sich einst zu einer Heirat entschlossen, hatten noch gar nicht gelebt , sie hatten noch kein eigenes Leben, das sie mit dem eines Anderen hätten vergleichen können; selbst die Träume kamen erst mit den Jahren.
Schließlich ergeben sich die Gleichheitsmöglichkeiten daraus, dass die Menschen nicht grundlos meinen, dass sie überallhin gelangen könnten, sich zu allem entwickeln könnten.
[207] Wo immer ihre Gleichen in der Gesellschaft sind – die Menschen werden dorthin gelangen. Sie werden arbeiten und kämpfen, wie sie sagen, umziehen und aufsteigen, bis sie endlich unter Ihresgleichen sind. Sie sind noch unter Fremden, aber sie werden nicht aufgeben, bis sie unter Ihresgleichen angekommen sind.
Für die scheinbar unendlichen Möglichkeiten, einen Gleichen zu finden, sorgt also auch der unendliche Lebensweg der Menschen, der sogenannte Weg zu sich selbst , den die Gesellschaft scheinbar nicht mehr blockiert. Die Menschen sagen: »In dieser Stadt, unter diesen Freunden bin ich noch nicht unter Meinesgleichen. In diesem Beruf, an dieser Arbeitsstelle bin ich noch nicht unter Meinesgleichen. Diese Stadt, dieser Beruf, diese Freunde sind mir fremd. Doch ich werde eine Stadt finden, einen Beruf und Freunde, wo ich endlich unter Meinesgleichen sein werde. Ich werde dafür arbeiten und kämpfen.«
Die Menschen lesen in der Zeitung immerzu Artikel, sehen im Fernsehen immerzu Filme, die berichten, wie Menschen aus der Fremdheit und Zufälligkeit ihrer Existenz gefunden haben in eine Existenz unter Ihresgleichen. Sie denken: »Die Fremdheit und Zufälligkeit meiner Existenz kann ich überwinden. Ich kann sie aufheben und ersetzen durch die Gleichheit und Notwendigkeit. Es hängt nur von meinem Willen ab und meiner Kraft. Ich kann die Lücke schließen zwischen mir und der Welt, die Welt zu meiner Welt machen, vielmehr: die jetzige Welt meiner Willenlosigkeit und Kraftlosigkeit ersetzen durch eine Welt meines Willens, meiner Kraft.«
Zeitungen und Fernsehen zeigen immerzu Willens- und Kraftmenschen, die die Welt zu ihrer Welt gemacht, ihre Welt der Willenlosigkeit und der Kraftlosigkeit verlassen und eine Willens- und Kraftwelt sich selbst geschaffen haben. Diese [208] Menschen leben in Ländern ihres Willens und haben Partner ihres Willens. In ihrer Arbeit kommt nichts zum Ausdruck als ihr, wie sie sagen, kompromissloser Wille , ihre eigene Notwendigkeit. Sie haben alle Fremdheit und Zufälligkeit kraft ihres Willens eliminiert. Sie leben nicht mehr in einer Wohnung, sondern in ihrer Wohnung, sie arbeiten nicht mehr in einem Beruf, sondern in ihrem Beruf, sie existieren nicht mehr in einem Körper, sondern in ihrem Körper – den sie trainieren, tätowieren, operieren; der für sie »Ich« ist. Der Mensch, mit dem sie leben, ist ihr selbstgesuchter Lebensmensch.
Diese Geschichten handeln von Menschen, die auf Erden nicht mehr zu Besuch, sondern zu Hause sind, die sich eingerichtet haben. Sie haben die Gleichheitsmöglichkeiten genutzt, haben gesucht, gekämpft und gewählt, bis ihnen alles gleich war. Sie haben sich die Welt gleich gemacht.
Tatsächlich aber entsprechen diese Geschichten nur der Gleichheitssehnsucht und der Gleichheitserwartung der freien Menschen. Tatsächlich fühlen die Menschen sich immerzu fremd, existieren notwendig und unaufhebbar in der Fremde.
Diese Fremde entsteht schon aus den Gleichheitsmöglichkeiten. Wer glaubt, unendliche Gleichheitsmöglichkeiten zu haben, stellt sich gegenüber jedem Vertrauten fremd. Die vertraute Arbeit wird fremd, weil die Menschen denken, dass es eine Arbeit geben müsse, die ihnen gliche. Der vertraute Mensch wird fremd, weil sie denken, dass es einen Menschen geben müsse, der ihnen gliche. Im Vergleich mit dem Gleichen wird den Menschen alles fremd. Die Fantasie des Gleichen als einer Möglichkeit verfremdet die vertraute Wirklichkeit. Der permanente
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