Das Ende der Liebe
gemeinsame Welt, die Vierzigjährigen und Fünfzigjährigen nicht mehr . Die freien Menschen denken sich das Glück als Ekstase, nicht als Existenz. Selbst wenn sie sich eine Existenz erträumen, so nur und ausschließlich eine Existenz, die auf der Ekstase beruht.
Die Menschen, die keine Privatsphäre mehr haben, keine Welt, außer einer Möglichkeitswelt, deren Zeit also eine lose Folge von Augenblicken ist – sie suchen naturgemäß auch nach einer weltlosen und zeitlosen Liebe, einer ekstatischen Augenblicksliebe. Die Geborgenheit, die eine Stadt gab, ein Haus, die Vertrautheit der Gegend und der Menschen, die Sicherheit der Zukunft, das alles haben die freien Menschen verloren, das alles suchen sie jetzt im Sex. Wo eine Welt war, da sollen jetzt Gefühle sein. An die Stelle einer Heimat treten Höhepunkte.
Die welt- und zeitlose Liebe, die die Menschen suchen, gliche einer merkwürdigen Gesellschaft, in der alles spontan aus dem Gefühl geschieht – oder, aus mangelndem Gefühl, unterbleibt; einer Gesellschaft, die ihre Organisationen und Unternehmen jeden Tag neu ins Leben rufen muss: in Massenversammlungen, wo die Menschen in größter Erregung sich zusammentun zu einer Regierung, einer Kirche, einem Konzern, um sich abends in alle Richtungen wieder zu zerstreuen. Sie gleicht einem Land, das seine Dörfer, Städte, Straßen und Brücken jeden Tag aufs Neue errichten muss aus der bloßen Natur. Es herrscht tiefes, unmenschliches Waldesschweigen, der Wind weht durch leere Fluren, bis plötzlich, man weiß nicht woher, sich Menschen versammeln, um Dörfer und Städte zu bauen, Straßen und Brücken, die Wälder zu roden, die Wüsten zu gewinnen für Leben und Zivilisation – bis, am Abend, die Menschen, man weiß nicht wohin, wieder verschwinden und mit ihnen Dörfer und Städte, Straßen und [199] Brücken – und die Wälder und Wüsten sich augenblicklich und lückenlos wieder schließen wie Wasser über einem Stein.
So geht es immerfort. Aus dem Nichts schaffen die Menschen in einem Zug alles, und wenn sie ruhen, wird aus allem wieder nichts. Wenn anderntags die Menschen also nicht zusammenströmen, sie nicht in der größten Erregung sind (sondern müde oder missgelaunt), dann gibt es keine Gesellschaft, kein Land. Dann herrscht Leere, triumphiert das Nichts.
So kann es eine Bindung der freien Menschen nur in der Ekstase geben. Sie zerfällt auf der Stelle, mit dem Gefühl, aus dem sie besteht.
Die Liebe soll also mehr denn je auf der Erregung beruhen, weil sie jetzt mittels der Erregung gesucht wird; weil sie sich von allen Zwecken befreit hat außer vom Zweck der Erregung; weil der Andere jetzt zuerst und vor allem als ein sexuelles Wesen erscheint; weil die Liebessuche auch blind immer wieder in den Sex stürzt; weil die freien Menschen, die ihre Liebesenttäuschung (im Sex) bereits erwarten, ihre Entschädigung im Sex suchen; weil sie jetzt eine unbegrenzte, eigene Sexualität haben, die über jede Liebe hinausgeht und – da die Liebe sich jetzt vor allem auf die Sexualität beruft – die Liebe unmöglich macht; weil die Menschen, die nur fallen wollen und fallen müssen, in die Ekstase hinein, in den Anderen hinein, also in den Ekel fallen.
Die Liebe war seit jeher eine Eroberin. Sie eroberte die Sexualität eines Menschen, vertrieb daraus, wie aus einem Tempel, alle anderen Angebeteten und erhob sich zum Alleinherrscher, zum alleinigen Gott. Sie ersetzte die niedere Religion einer Vielgötterei, das Begehren der Vielen, durch die Liebe zu Einem, das Begehren eines Einzigen.
[200] Damit stellte sich nicht nur die Frage, ob die Liebe stark genug, ausreichend Liebe war, um den Tempel zu erobern, sondern auch umgekehrt, wer oder was bis zu diesem Tag den Tempel beherrscht hatte, wie viele es waren . Denn die Liebe kann nicht jede Macht, jede Religion aus dem Tempel vertreiben – und so erst zur Liebe werden. Der Gegner kann zahlreich sein, zu zahlreich.
Tatsächlich erweist sich die Sexualität der freien Menschen, ihre eigene Sexualität, als Tempel, der uneinnehmbar geworden ist. Die Sexualität ist jetzt uneinnehmbar durch die Liebe. Der Glaube an die Vielen, die Vielen in Einem, die Hydra, ist unbesiegbar geworden.
[201] SIEBEN
DIE SUCHE NACH DEM PASSENDEN
Das siebte Kapitel: in dem berichtet wird, dass die Menschen einen Partner suchen, der ihrem unendlichen Selbst entspricht; dass sie also einen Partner suchen, der ihnen vollkommen gleicht, der die gleichen Leidenschaften und
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