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Das Ende der Liebe

Das Ende der Liebe

Titel: Das Ende der Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sven Hillenkamp
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Veränderungswille der Menschen erzeugt die Fremde, die er überwinden will, selbst. Immer wieder. Die freien Menschen sind Fremdheitsproduzenten.
    [209] Früher waren die Menschen von der Welt befremdet, weil sie feststellen mussten, dass in der Welt keine göttliche Ordnung herrschte. Die freien Menschen sind befremdet, weil sie feststellen müssen, dass in der Welt nicht ihre eigene Ordnung herrscht; dass ihre Selbstverwirklichung noch nicht zu einer Weltverwirklichung und Weltschöpfung geführt hat. Sie erkennen mit Schrecken nicht die Inexistenz des Schöpfers, sondern mit Schrecken die Inexistenz ihrer selbst als Schöpfer.
    Vor allem gegenüber sich selbst stellen die Menschen sich fremd, gegenüber ihrer vermeintlichen Vergangenheit. Sie sagen: »Was ich war, was ich gedacht und getan habe, ist mir jetzt vollkommen fremd.« Sie sehen unendliche Möglichkeiten etwas zu tun, das anders wäre, das ihnen also gliche, das ihr sogenannter Stil wäre, ihrer sogenannten Art entspräche, das notwendig und authentisch wäre.
    Die Menschen stellen sich fremd gegenüber allem sogenannten Alten, noch bevor etwas Neues entstanden ist – außer eben diesem Gefühl an sich , sich fremd zu sein. Die Identität der freien Menschen besteht gerade darin, sich fremd zu sein, sich gegenüber sich selbst fortwährend fremd zu stellen. Die Menschen erzeugen ihre Identität, indem sie den Satz sagen: »Ich bin eigentlich anders, als ich bin.« Die freien Menschen sind sich selbst immer um die Fantasie von einer besseren Zukunft und ein vernichtendes Urteil über ihre Vergangenheit voraus. Das ist ihre Gegenwart.
    Es ist aber auch die unendliche Welt, die Fremde erzeugt. Die Welt – die ja nichts anderes ist als die Gesamtheit aller Bewegungen der Menschen, jene große Gesamtbewegung, die jeden Einzelnen wiederum zum Unbewegten, zum Wegesrandhocker und Ewigwartenden macht – sie ist notwendig eine Fremde.
    [210] In dieser Welt herrscht der Zwang, in die Fremde zu gehen, und allein schon dadurch, dass Viele es tun, dass sie die Heimat schon früh in Richtung einer Fremde verlassen, verfremdet sich auch die Heimat, wird auch sie – für die Wenigen, die in der Heimat bleiben – zu einer Fremde. Entweder sind bereits die Eltern von Fremde zu Fremde gezogen, oder die freien Menschen selbst werden schon in jungen Jahren, allein durch das Bewusstsein ihrer Freiheit, ihrer Möglichkeiten, der Heimat fremd. Sie sagen: »Was soll ich noch hier, wenn ich auch woanders sein kann?« Keine neue Heimat kann indes eine wahre Heimat für sie werden, denn das Bewusstsein ihrer Freiheit, der Möglichkeit, sich wiederum eine neue Heimat zu suchen und zu wählen, hält die Menschen davon ab. So verfremdet sich auch die neue Heimat wieder; die meisten verlassen sie früher oder später, folgen ihrer Bewegungsfreiheit, dem Bewegungsgebot und Bewegungszwang.
    Alle Orte werden zu Pseudo-Orten, Passantenorten. Sie tragen zwar noch die alten Namen – Alexanderplatz, Staatsbibliothek –, doch die Konstanz wird Illusion. Straßen, Plätze und Gebäude sind nur noch Kanäle, durch die der Strom der freien Menschen fließt.
    Die Möglichkeit, einen Totalgleichen zu finden, wächst also im gleichen Maße, wie die Fremde wächst, die diesen Wunsch nach dem Totalgleichen überhaupt erst erzeugt. Die Fremde, also die Unendlichkeit des immer wieder Neuen, erzeugt die Gleichheitsmöglichkeiten, und die Gleichheitsmöglichkeiten erzeugen die Fremde.
    Es sind keine Kriege und Plagen mehr, die den Menschen das Zuhause nehmen, nicht Gott, Natur und Geschichte, die sie zu Fremden machen. Es ist das lautlose Fließen unendlich vieler Sandkörner, unendlich vieler Teilchen – die stete, lautlose Bewegung aller freien Menschen. Die Welt ist eine [211] Wanderdüne. Die Fremde entsteht nicht mehr durch ein apokalyptisches, ein industrielles und kriegerisches Weltenende (wie in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts), sondern durch permanenten Weltenanfang , durch das unendliche Anfangen und »Neuanfangen« aller freien Menschen.
    Je fremder und befremdeter die Menschen aber sind, umso mehr soll der zu Liebende, als Ausgleich, ihnen gleichen. Die Menschen werden von der Fremde, in der sie existieren müssen, gestoßen in die Gleichheitssehnsucht und zugleich angezogen von den unendlichen Gleichheitsmöglichkeiten, die dieselbe Welt zu bieten scheint, die ihnen immer wieder so fremd wird. Sie ist eine Fremde, die immerzu verspricht, Heimat zu werden. Die Menschen

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