Das Ende der Liebe
Ruhe vor der Schleuse, die sich jeden Moment wieder öffnen kann.
[214] Da die Menschen nicht mehr die gleiche Welt haben, brauchen sie die gleichen Themen . Sie müssen über das Gleiche sprechen wollen. Da sie sich nicht mit derselben Existenz beschäftigen, beschäftigen sie sich mit denselben Themen. Sie haben keinen Zukunftshorizont, sondern einen Gesprächshorizont. Sie sind nicht mehr unterschiedliche Menschen, die aber vereint sind durch die gleiche Existenz, die gleiche Zukunft, sondern sie müssen sich gleichen, da es keine gemeinsame Existenz gibt, jede Zukunft permanent in Frage steht.
Auch aus der ständigen Trennungsmöglichkeit entsteht so die Gleichheitsnotwendigkeit. Die freien Menschen sagen: »Ich werde mich vielleicht vom Anderen trennen. Da will ich wenigstens jetzt über das Gleiche sprechen. Sicherheit und Geborgenheit liegen nicht in der Zukunft, sondern in unserer Gleichheit.«
Die Menschen suchen auch einen, der die gleiche Vergangenheit hat. Natürlich soll er nicht aus derselben Stadt kommen, derselben Straße. Dann hätten die freien Menschen ja ihre Freiheit nicht genutzt. Doch der Andere soll das Gleiche getan, das Gleiche erlebt und erfahren haben, das Gleiche erlitten. Er soll alle Geschichten kennen, dieselbe Sprache sprechen, jeden Scherz mit einem Lachen decken. Man soll ihm nichts erklären müssen. Er soll die Menschen kennen, schon weil er sich selbst kennt.
Da die Welt den Menschen nicht mehr sagt, wer sie sind, sind sie nur noch das, was sie gewesen sind. Sie sind nur noch ihre Vergangenheit. Doch wenn da keiner ist, der ihre Vergangenheit teilt und spiegelt, die gleiche Vergangenheit hat, zerfällt ihre Geschichte zu merkwürdigen Anekdoten, versiegt ihre Sprache. Die Sprache versiegt, weil niemand die Menschen versteht, niemand aus Erfahrung weiß, was sie meinen.
[215] Die Menschen sind also angewiesen auf einen, der Mitglied ist in derselben Vergangenheitsgemeinschaft . Sie wollen mit einem Geliebten eine Vergangenheitsgemeinschaft begründen.
In ihrem Umfeld teilen sie mit nichts mehr die Vergangenheit, mit keinem Haus, keinem Baum, nicht mit der Luft, die sie atmen, nicht mit den Menschen, mit denen sie zusammen arbeiten, bei denen sie einkaufen, nicht mit ihrem Arzt, ihrem Therapeuten, nicht einmal mit den besten Freunden.
Die Menschen behaupten allerorten, dieser oder jener zu sein (also: gewesen zu sein), doch keiner versteht sie, keiner kann, was sie erzählen, aus Erfahrung korrigieren. Erst die korrigierte Geschichte aber ist eine wahre Geschichte, keine Erfindung. Ein Einzelner erzählt immer nur glatte Geschichten, nur seine Wahrheit, also Erfindung. Er braucht den Widerspruch, die Korrektur. Von der Wirklichkeit erzählen lässt sich nur im Dialog, in der Vielstimmigkeit. »Es war so …« – »Nein, es war so …« – »Eigentlich war es doch so …« Das Paradox der erzählten Wahrheit lautet: Je mehr Versionen von ihr existieren, desto wahrscheinlicher ist sie. Die Wahrheit liegt jenseits aller Geschichten, die sie offenbaren sollen, sie wird von allen Geschichten nur umkreist wie eine schwarze, unsichtbare Sonne von unzähligen Planeten. Der Bericht nur eines Einzigen, der unwidersprochen, also unbestätigt bleibt, behält stets den Klang des Unwahrscheinlichen, des Erfundenen, Erlogenen – auch und besonders für den Berichtenden selbst.
Die freien Menschen, die aus ihrem Leben immerzu ohne Widerspruch von Zeugen erzählen müssen, wissen, dass sie nur Geschichten erzählen, Stories , sie wissen um ihr Unterschlagen, Übertreiben. Sie brauchen einen Gleichen, um ihre Vergangenheit, also sich selbst, nicht zur Erfindung werden zu lassen.
[216] Zugleich aber fürchten sie nichts so sehr wie einen Partner, der die gleiche Vergangenheit hat. Denn sie trauen keinem mit dieser Vergangenheit die Zukunft zu, die sie ersehnen – außer, natürlich, sich selbst. Sie sagen: »Ich fühle mich bei dir sicher und wirklich, weil du die gleiche Vergangenheit hast. Aber ich weiß, dass wir eine Vergangenheitsgemeinschaft bilden und nie die Zukunft erreichen werden, die ich mir ersehne.«
Im Übrigen ist jeder Unterschied zwischen den Menschen und ihren Partnern tödlich, weil die Menschen, die gewohnt sind, alles in ihrem Leben zu wählen, bekanntermaßen alles als eine Eigenschaft des Selbst wahrnehmen. Der Partner, der anders ist als sie und zu einer Eigenschaft ihres Selbst geworden ist, verändert also auch die Menschen, verkehrt ihr innerstes Wesen.
Die
Weitere Kostenlose Bücher