Das Ende der Männer: und der Aufstieg der Frauen (German Edition)
innehatten, haben nicht nur ihre eigentliche Aufgabe, sondern auch die Orientierung verloren; was sich nicht nur auf die Regeln für Sex, Ehe, Politik und Religion auswirkt, sondern auch auf die Zukunftspläne der jungen Leute, beispielsweise an der Benjamin Russell High School. Selbst Regeln, die quasi in Stein gemeißelt waren, etwa die Art und Weise, wie sich Teenager verlieben, haben sich verändert.
Soziologen haben diesen Wandel überwiegend negativ beschrieben; als ein Loch, wo man früher Vertrautes fand: das Absinken der traditionellen Mittelschicht, das gebrochene Rückgrat Amerikas, die größer werdende Kluft zwischen Arm und Reich. Doch dabei wird übersehen, dass sich die Veränderungen auf Frauen ganz anders auswirken als auf Männer. Die auffälligste Entwicklung ist die Entstehung eines amerikanischen Matriarchats. Vor allem die jungen Männer sind halt- und orientierungslos und waren noch nie in der Geschichte einem Zustand so nahe, in dem sie quasi überflüssig sind – zumindest gemessen an den traditionellen Maßstäben ihres gesellschaftlichen Nutzens. Und die Frauen dürfen die Scherben aufsammeln und die Situation wieder in Ordnung bringen.
Ich lerne Charles Gettys beim Abendmahl kennen, das jeden Mittwochabend in der First Baptist Church stattfindet. Charles arbeitete 23 Jahre lang in der Textilfabrik und machte dort Karriere, wurde Abteilungsleiter der Färberei und der Konfektionierung und stand an zweiter Stelle in der Abteilung für Stoffe. Dank der vielen Sweatshirts und Trikots konnte er drei Kindern das College bezahlen und ein schönes Haus am See bauen. Jetzt wirken all die Wörter – »Färberei«, »Konfektionierung«, »Textiltechnik« – wie aus einer anderen Zeit, als ob er Shakespeare-Englisch sprechen und beim Essen mit der Familie »thou« und »thee« sagen würde, erklärt er und erzählt weiter, dass er sich denkt: »Da bin ich nun, draußen in der weiten Welt, und versuche, Schreibmaschinen an den Mann zu bringen.« Aus der Asche erhob sich die »neue Norm«, wie Charles’ Frau Sarah Beth die aktuelle Situation beschreibt, über die die Leute hier aber nur sprechen, wenn man sie dazu drängt, weil sie zu sehr dem Selbstverständnis der Südstaatler und ihrer Sicht von der natürlichen Ordnung der Dinge widerspricht.
»Jahrelang habe ich das Geld nach Hause gebracht und die Familie ernährt«, sagte mir Charles. »Jetzt bringt sie das Geld nach Hause.« Charles und Sarah Beth, beide Mitte fünfzig, legen Wert darauf, jede Woche mittwochs in die Kirche zu kommen, obwohl Sarah Beth mit ihrer Arbeit und ehrenamtlichen Tätigkeit mehr als genug zu tun hat. Sarah Beth hat als Krankenschwester angefangen und sich im Lauf der Jahre nach oben gearbeitet. Heute steht sie in der Klinikleitung des Russell Medical Center, dem lokalen Krankenhaus, das für seine Arbeit schon Preise gewonnen hat, an dritter Stelle. »Wahrscheinlich gibt es niemanden, dessen Frau die Karriereleiter so schnell erklommen hat, wie ich sie hinabgestiegen bin«, meint Charles. Sarah Beth hat ihr eigenes Büro, direkt zwischen dem des Klinikleiters und der kaufmännischen Geschäftsführung. Sie hat eine Sekretärin und muss zu endlosen Besprechungen. Ihre Arbeit gibt den Zeitplan der Familie vor, finanziert die Studiendarlehen und sorgt für die Krankenversicherung. In ihrer Freizeit ist sie eine der »Macherinnen« in der Stadt, unterrichtet an der Sonntagsschule und leitet verschiedene Bürgergruppen. Sie hat nicht viel Verständnis für Charles’ Grübeleien. »Bau dir eine Brücke und geh drüber«, rät sie ihm. »Sitz nicht einfach nur herum, ertrinke nicht in Selbstmitleid, tu etwas.«
Überall, wo ich hinkam, passten sich Paare an die neue häusliche Realität an: Die Frau zahlt die Hypothek ab, die Frau fährt jeden Tag zur Arbeit und gibt dem Mann vorher noch schnell Anweisungen, wie er die Wäsche machen muss. Die Einwohner der Stadt unterteilen die ehemaligen Russell-Mitarbeiter in drei Gruppen: die auf der »Durchreise«, die jeden Tag eine Stunde bis nach Montgomery zur Arbeit fahren und nie rechtzeitig zum Abendessen daheim sind, die »Häuslichen«, die tagsüber daheim herumsitzen und auf neue Arbeit hoffen, und die »Laufburschen«, die ihre Frauen zur Arbeit fahren und wieder abholen und in der Zwischenzeit jagen oder fischen gehen. »Sie lachen wahrscheinlich darüber«, sagte mir Charles, »aber für die Männer war es härter als für die Frauen. Man hat den Eindruck, die Frauen
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