Das Ende der Männer: und der Aufstieg der Frauen (German Edition)
Sonntagsschule, Trainer der Sportmannschaften und Vorsitzende bei den Rotariern. Früher einmal war das Patriarchat keine abstrakte Idee, über die man sich in der Theorie stritt, sondern das zentrale Organisationsprinzip des bürgerlichen Lebens. An der Spitze des Patriarchats von Alexander City, das dieses Leben in der Mittelschicht ermöglichte, stand die Familie Russell, nach der in der Stadt viele Einrichtungen und wichtige Straßen benannt sind (Benjamin Russell High School, Russell Medical Center, Russell Road). Eine Stufe darunter befanden sich Freunde und Verwandte der Familie, die als Führungskräfte in der Fabrik arbeiteten und wichtige Funktionen im öffentlichen Leben bekleideten.
Die einzige Frau mit einer bemerkenswerten gesellschaftlichen Position war eine Matriarchin namens Big Mama, die auf einer Art Miniplantage mit Rosenspalieren, Swimmingpools und einem Haus für jeden ihrer Söhne lebte.
Das Patriarchat der Stadt unterstützte die aufstrebende, fleißige Mittelschicht, die in Pop- und Countrysongs und politischen Reden so gern romantisiert wird, in jeder Form. Wie viele wirtschaftlich gut gestellte Kleinstädte in den USA war Alexander City ein Musterbeispiel für den amerikanischen Traum, der hier so ganz anders aussah als ein erfolgreiches Leben in New York oder San Francisco. Hier konnte ein Mann mit einer Ausbildung in der Textilwirtschaft oder ein Ingenieur 70 000 oder sogar 100 000 Dollar verdienen, genug, um sich ein zweites Haus am See oder ein eigenes Boot zu leisten. Hier konnte ein Mann einen SUV von Lexus fahren und sich trotzdem noch als amerikanischer Cowboy betrachten, wie er in dem Song von Toby Keith beschrieben wird, der natürlich laut aus dem Radio des Geländewagens dröhnte: »Wearing my six-shooter, riding my pony on a cattle drive« (»Bewaffnet mit meinem Revolver reite ich mein Pferd zum Viehtreiben«). Er konnte mit seiner Familie Urlaub in Disneyland machen und danach wieder daheim in die Kirche gehen, wo man, wenn es nötig war, für ihn persönlich betete. Währenddessen konnten sich seine Kinder die Shows von Tanzkompanien ansehen, die Big Mama gern in die Stadt holte und dazu sagte: »New York City kann uns gar nichts!«
Aber dann, kurz vor Beginn des neuen Jahrtausends, geriet Russell in den Strudel der Globalisierung und der Wirtschaftskrise, in dem viele amerikanische Fertigungsunternehmen untergingen. Die Firma wurde von Berkshire Hathaway aufgekauft, die Produktion wurde nach Mexiko, Kolumbien, Brasilien und Honduras verlegt, wo T-Shirts und Trikots für einen Dollar das Stück genäht wurden. Die amerikanische Firmenzentrale zog nach Atlanta um, weil die neue Klasse der internationalen Führungskräfte und Marketingspezialisten (ganz zu schweigen von der Frau des neuen Vorstandsvorsitzenden) »die Vorstellung, in einer Kleinstadt wie Alexander City zu leben, nicht sonderlich schätzte«, wie es in der offiziellen Firmengeschichte heißt. Das meistfrequentierte Büro in Alexander City war fortan die Arbeitsvermittlung, wo die frisch Entlassenen beraten wurden. Die Stadt entwickelte sich derweil vom unwahrscheinlichen Standort eines Fortune-500-Unternehmens und stolzen Produzenten von Trikots, die praktisch jeder Football- oder Baseballstar trug, den man je in einem Werbespot gesehen hatte, zum jüngsten Opfer des Strukturwandels. »Das ist, als ob jemand einfach den Hahn zugedreht hätte – und wir wissen nicht, wie man ihn wieder anstellt«, erklärte Mary Shockley, die am Russell Medical Center arbeitet. Plötzlich war der Aufstieg in die Mittelschicht und zu all den damit verbundenen bekannten Insignien versperrt.
Ich kam in einer Zeit nach Alexander City, als die Bewohner immer noch versuchten, das Geschehene zu verarbeiten. Die Stadt war in einer ähnlichen Situation wie zahlreiche amerikanische Vorstädte in der Nähe von Las Vegas, Houston oder Fort Lauderdale, wo die Rezession und die Immobilienkrise die Mittelschicht schwer getroffen hatten. Doch in Alexander City war der Effekt besonders konzentriert und deutlich, man konnte gut erkennen, was verloren gegangen war und was stattdessen entstand. Im vergangenen Jahrzehnt hat die breite Mittelschicht Amerikas so gravierende Veränderungen durchgemacht, dass sie fast nicht mehr zu erkennen ist; die Zahl der Eheschließungen ist massiv zurückgegangen, während die Scheidungsrate und die Zahl der alleinerziehenden Mütter stark gestiegen sind. Männer, die in der Familie die Rolle des Ernährers
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