Das Ende der Männer: und der Aufstieg der Frauen (German Edition)
auf einem dritten steigt Julia mit Flügeln wie ein Engel in den Himmel auf.
In diesem Jahr hat sie mit der Besprechung des Dramas bis zum Frühling gewartet, »wenn die Säfte steigen und die Schülerinnen und Schüler einander schöne Augen machen«, sagt sie. Aber ihre Zöglinge bleiben ungerührt. Nicht nur ungerührt: Sie sind angewidert von Romeos »weinerlicher Lahmheit«, wie sie ihrer Lehrerin immer wieder sagen. Fünfter Akt, dritte Szene: Romeo hat bereits Julias Leiche gefunden und kehrt nun zur Gruft zurück. Er ist verzweifelt und völlig außer sich vor Kummer. Er hat Paris getötet und ist entschlossen, sich das Leben zu nehmen und sich im Tod wieder mit Julia zu vereinen. Connie spielt eine Aufnahme vor, die sie im Netz gefunden hat: »… will ich dich nie verlassen. Und will aus diesem Palast dichter Nacht nie wieder weichen.« Romeo kriecht in die Gruft. Er küsst Julia, trinkt das Gift und küsst sie erneut. »Dies meiner Lieben! O wackrer Apotheker! Dein Trank wirkt schnell. – Und so im Kusse sterbe ich.« Auf dem Band hört man ein vernehmliches Schlucken, als er trinkt.
Ein Mädchen wirft das Lektürebuch quer durchs Klassenzimmer. Es ist Tanner Harris, eine rotblonde Schönheit, die bereits in den letzten Wochen keinen Hehl aus ihrer Abneigung gegen das Stück gemacht hat. »Was für ein Blödsinn«, sagt sie. »Ich finde das total sinnlos. Und lächerlich.«
Connie ist eine erfahrene Lehrerin und wird mit jeder Meinung fertig, selbst wenn diese an Respektlosigkeit grenzt. Sie nutzt Tanners Einwand als Ausgangspunkt für eine Diskussion. »Aber ist es denn nicht möglich, dass man einfach ein bisschen irrational handelt, wenn man verliebt ist?«, fragt sie.
»Ich glaube, das ist nur bei ihm so«, verkündet Tanner. »Meiner Meinung nach ist er einfach nur ein kleiner Jammerlappen, er ist nicht normal. Ein anderer Junge würde sich einfach ein anderes Mädchen suchen. Er würde sich doch nicht wegen eines Mädchens umbringen. Was soll denn daran so schlimm sein? Such dir einfach eine andere.«
»Tja, findet irgendjemand von euch das nicht doch irgendwie romantisch?«, fragt Connie und erhält von der Klasse ein langgezogenes »Nöööö« als Antwort.
»Er ist einfach ein Weichei«, meint ein Schüler. »Und total durchgeknallt.«
Nach einer Weile öffnet Connie die Diskussion weiter und spricht mit der Klasse über den Bezug des Schauspiels auf ihr eigenes Leben. »Okay, Wortmeldungen bitte, wer von euch hat vor zu heiraten?« Etwa 15 der insgesamt 25 Schüler heben die Hand, darunter deutlich mehr Jungen als Mädchen. »Wie viele glauben, dass sie heiraten, bevor sie fünfundzwanzig sind?« Sechs Schüler melden sich. »Nachdem sie dreißig sind?« Vier Schüler heben die Hand, allesamt Mädchen. Darunter ist auch Gabby Humber, eine großgewachsene Blondine mit dunklem Haaransatz, die Jeans und eine Halskette mit Herzanhänger trägt und aussieht, als ob sie als Erste weggeheiratet werden würde.
»Tja, mich langweilen andere einfach schnell«, erklärt sie. »Heiraten ist nichts für mich.«
»Und wer sorgt dann für dich?«, fragt jemand.
»Ich gehe aufs College und kann für mich selbst sorgen«, zischt sie. »Ich brauche doch keinen Mann, der mich versorgt.«
Connie hat ihre eigene Theorie, warum ihre Schüler plötzlich keine Lust mehr auf Romantik haben. Seit die Textilfabrik im Ort geschlossen wurde, hat das Leben in der Stadt seine tröstliche Routine verloren. Früher hat man sich kennengelernt, hat geheiratet, bei Russell gearbeitet und irgendwann dazwischen ein paar Kinder bekommen, aber das ist vorbei. Für diejenigen, die noch in der Stadt wohnen, ist das Leben deutlich unvorhersehbarer und unkalkulierbarer geworden; das spüren auch die Jugendlichen. Innerhalb von fünf Jahren ist die Zahl der Schüler, die ihr Schulessen kostenlos oder zu einem reduzierten Preis bekommen, von 23 auf 58 Prozent gestiegen, wie mir die Rektorin erzählt. Die Eltern haben mehr Stress und lassen sich häufiger scheiden, was bei den Schülern den Eindruck hinterlässt, dass die Ehe ein »Wegwerfartikel« ist, wie sie es formuliert.
Ich fragte Lou Ann Wagoner von der Schulaufsichtsbehörde, was sich in den letzten Jahren am meisten verändert habe, und sie nannte zwei Punkte. Zum ersten Mal ließen sich weiße Mädchen auf handgreifliche Auseinandersetzungen ein. Seit zwei Jahren, erklärt sie, ähnle die Atmosphäre »immer mehr der Jerry Springer Show« , einer Talkshow, die für
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