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Das Ende der Unschuld: Roman (German Edition)

Das Ende der Unschuld: Roman (German Edition)

Titel: Das Ende der Unschuld: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Megan Abbott
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Echo unserer Stimmen fühlt sich alles ein bisschen besser an, ein bisschen weg von all dem, ein bisschen sicherer vor all dem.
    Sogar die Stelle im Garten, der Platz unter dem Birnbaum, ist nicht mehr seine, nicht mehr Mr. Shaws. Wir sind irgendwie entrückt, alles andere tritt in den Hintergrund. Ich glaube, das sind die einzigen Stunden für ihn, in denen er frei davon ist, und ich kann dafür sorgen, dass er es vergisst. Ich kann es. Oder ich kann ihm helfen, daran zu denken, ohne dass es ihn fertigmacht.
    Mrs. Verver ist fix und fertig. Es geht ihr immer schlechter, sagt er. Sie kann nicht schlafen, es macht sie ganz verrückt. Sie sagt ihm, sie wird verrückt.
    Sie sitzt stundenlang am Schlafzimmerfenster wie eine Seemannsbraut. An einem Abend hat sie Evies Zimmer komplett auseinandergenommen, weil sie sicher war, dass die Polizei irgendetwas übersehen hatte, einen Hinweis nicht bemerkt.
    »Eigentlich wusste sie genau, dass sie nichts finden würde«, sagt er.
    Dann sagt er: »Womöglich hat sie sogar Mrs. Shaw angerufen. Ich weiß es nicht, aber ich glaube, sie hat sie angerufen.«
    Wie grauenhaft, ich stelle mir diesen Anruf vor, Mrs. Ververs raue Stimme auf dem Anrufbeantworter, ich weiß, dass er sie mitgenommen hat, ich weiß es, wohin hat er sie gebracht, was hat er getan, und Mrs. Shaw hält sich, irgendwo in einer Ecke ihres Hauses zusammengekauert, die Ohren zu und hofft, dass es aufhört .
    Alle glauben, dass es nie aufhört.
    Alle wollen, dass es aufhört.
    »Sie hat einfach das Gefühl, sie müsse irgendwas tun«, sagt er. »Wie wir alle. Ich kann gar nichts anderes mehr machen.«
    Ich spreche einfach von etwas anderem.
    Ich erzähle ihm, dass ich all die Lieder gehört habe, von denen er mir erzählt hat.
    Und ich erzähle ihm, dass mein Bruder am Tag nach dem Abschlussball mit seiner Freundin Schluss gemacht hat, und dass sie seine Spindtür eingetreten und Sachen über ihn mit Permanent Marker an den Spiegel in der Mädchentoilette geschrieben hat.
    Und ich erzähle ihm, dass ich noch weiß, wie ich mal mit nackten Füßen auf dem rutschigen Teppich im Flur vor Evies Zimmer ausgerutscht und über den Holzboden geschrammt bin.
    Aber Sie haben alles wiedergutgemacht, sage ich. Sie haben mich auf den Frisiertisch im Bad gesetzt und eine Viertelstunde gebraucht, um mit einer Pinzette und einer heißen Nadel den Splitter rauszuziehen.
    Ich erinnere mich, jedenfalls glaube ich das, als ich es ihm erzähle, an den sanften Druck seines Handballens, als ich stocksteif dasaß und er von der Zeit erzählte, als er mit fünfzehn Jahren Klavierspielen lernte und den Refrain in Layla immer und immer wieder hörte, nur um ein Mädchen namens Eleanor Tipton zu beeindrucken, die ihm dann naserümpfend sagte, sie würde nur mit Drummern ausgehen und stünde mehr auf Led Zeppelin als auf Eric Clapton, der sowieso überschätzt sei.
    »Das habe ich dir erzählt?«, fragt er grinsend. »Kann ich mich gar nicht dran erinnern.«
    »Haben Sie aber.«
    »Eleanor Tipton«, sagt er und lächelt unbekümmert. »Sie hat mir das Herz gebrochen. Ich dachte, ich könnte mich nie wieder verlieben.«
    »Haben Sie aber«, sage ich.
    »Hundertmal«, sagt er zwinkernd, »noch bevor ich achtzehn war.«
    Wenn ich kurz vor den Elf-Uhr-Nachrichten nach Hause komme, ist meine Mutter zufrieden. Sie sagt, ich werde langsam verständig und vernünftig. Sie hat ihren neuen orientalischen Seidenmantel fest zugebunden und füttert mich mit ofenwarmen Zimtschnecken, wie als ich noch klein war, diese Sorte, wo der Guss in einer Plastikscheibe dabei ist.
    Sie setzt sich mit mir an den Küchentisch und ich weiß, dass sie gern möchte, dass ich ihr irgendwas erzähle, ihr sage, wie die Ermittlungen laufen und wie es Mr. Verver geht. Aber ich habe keine Lust, es ihr zu erzählen. Ich weiß nicht, wie ich es ihr verständlich machen könnte.
    Sie beugt sich zu mir, das Kinn in die Hand gestützt.
    Sie möchte, dass ich mich ihr anvertraue, und sie möchte sich mir anvertrauen.
    Es muss sie wahnsinnig machen, dass ich dasitze und die Glasur ablecke, sie mir von allen Fingern einzeln lecke.
    Ich sehe sie nur an und beiße noch einmal ab, meine Hand sinkt auf die Zimtschnecke.
    Ich gucke sie nur an und gucke und gucke und gebe nichts preis.
    Ich gebe ihr nichts.
    Es ist kurz nach Mitternacht, ich sitze auf der vorderen Veranda, was sie mit Sicherheit wahnsinnig machen würde. Aber ich kann nicht schlafen, die Klimaanlage war so laut, und ich habe mich

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