Das Ende der Welt (German Edition)
nahm den Soldaten die Sicht. Sie feuerten jetzt blindlings auf alles, was sich bewegte. Lale hielt meine Hand fest und ich Leelas, und so flüchteten wir mit Dutzenden Menschen, die ebenfalls dem Inferno entkommen wollten, durch den Kontrollposten. Die Soldaten schossen hinter uns her. Neben mir brach ein Mann zusammen. »Los, weiter!«, rief Lale und führte uns zwischen Häuserreihen durch und über Hinterhöfe. Hinter uns ebbte der Lärm ab.
Wir liefen über einen alten Friedhof mit eingesunkenen Gräbern und umgeworfenen Grabsteinen.
»Warte mal«, sagte ich zu Lale. Sie blieb stehen und sah mich an.
»Warum haben Astrid und Tomasz uns verraten?«
»Um dich loszuwerden«, sagte sie. »Sie hatten Angst, dass du ihnen die Führung streitig machst, also mussten sie dich opfern. Außerdem brauchten sie einen Märtyrer, verstehst du?«
Ich verstand gar nichts.
»Sie haben gehofft, die Soldaten würden euch erschießen oder wenigstens gefangen nehmen. Und dann würde es einen Aufstand aller Widerstandsgruppen geben«, erklärte Lale.
»Das ist doch total verrückt«, sagte ich.
Lale nickte.
»Und warum hast du uns geholfen?«, fragte Leela.
»Wie Kjell schon gesagt hat, Astrid und Tomasz sind verrückt geworden.«
Sie trieb uns zur Eile an. Wir hasteten unter uralten, abgestorbenen Bäumen entlang, die auf einem vergilbten Rasen standen und darauf warteten, beim nächsten kräftigen Windstoß umzukippen. Neben der Universität, einer riesigen, mit Flechten und Moosen überwucherten Ruine, versteckten wir uns in einem Busch. Lale zeigte auf eine Reihe Bäume auf der gegenüberliegenden Straßenseite. »Dahinter beginnt der Wald. Vorher aber müsst ihr den Todesstreifen überwinden.« Vor den Bäumen lag ein überwuchertes Feld, das von einem Stacheldraht umgeben war.
»Ihr müsst euch vor allem vor den Hunden in Acht nehmen«, sagte Lale. »Sie werden kaum gefüttert, damit sie schärfer sind. Selbst die Soldaten trauen sich nicht mehr rein. Aber es gibt leider keinen anderen Weg, um unbemerkt aus der Stadt zu kommen.«
Etwa hundert Meter weiter stand ein Wachturm. Ein Scheinwerfer drehte sich langsam im Kreis.
»Bleibt aus dem Lichtkegel raus, der Turm ist mit Scharfschützen besetzt. Und wartet, bis es dunkel ist. Ich muss jetzt gehen.«
Wir umarmten sie zum Abschied und sahen ihr nach, bis sie verschwunden war.
Außerhalb der Stadtgrenze waren keine Menschen unterwegs, bis auf eine Militärstreife, die über die regennasse Straße spritzte. Aus der Stadt klangen Sirenen und Schüsse herüber. Bis zum Einbruch der Dunkelheit dösten wir oder redeten leise oder aßen etwas von den Muschniks, die Lale in ihrer Tasche gefunden hatte. Unseren Durst stillten wir, indem wir die nassen Blätter ableckten.
Als es dunkel geworden war, warteten wir noch eine Weile, bevor wir uns aus dem Versteck wagten und geduckt über die Straße liefen. Am Zaun warfen wir uns hin und beobachteten den Wachturm, der mit seinem bleichen Lichtfinger das Feld abtastete. Wir zählten, wie lange das Licht für eine Umdrehung brauchte: zwölf Sekunden! Jedes Mal, wenn der Scheinwerfer von uns wieder wegschwenkte, gruben wir mit den Händen ein Loch unter dem Zaun, und als es groß genug war, zwängten wir uns durch und robbten durch das hohe Gras, um wie tot liegen zu bleiben, sobald das Licht über uns strich. Bald erreichten wir die erste Reihe Bäume. »Vielleicht haben sie die Hunde abgezogen«, flüsterte ich Leela zu und wollte mich gerade aufrichten, da sah ich zwischen den Bäumen einen dunklen Schatten auf uns zugleiten und blieb liegen. Ein seltsames Knurren, wie von einer kaputten Maschinenpistole, war zu hören.
»Bleib liegen, vielleicht haut der Köter ab«, sagte ich zu Leela und presste die Nase in den feuchten Boden. Als eine ganze Weile nichts passierte, wagte ich es, den Kopf zu heben. Das Biest stand einfach da, knurrte leise und stierte uns sabbernd an. Ich sah mich nach einer Waffe um, da machte der Hund plötzlich einen Schritt auf uns zu. Es war ein großer, mit zottigem schwarzem Fell und glänzenden Augen.
»Er macht gar nicht den Eindruck, als wollte er uns angreifen«, sagte Leela, richtete sich vorsichtig auf und streckte dem Tier die Hand entgegen.
»Bist du verrückt!«, sagte ich lauter als beabsichtigt.
Der Hund schwenkte herum und kam auf mich zu. Ich versuchte mich wie ein Wurm in den Boden zu wühlen, da spürte ich schon seine Schnauze an meinem Ohr, roch seinen schlechten Atem und rechnete
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