Das Ende der Welt
Beweisstücke noch einmal durch, die ganze Akte. Sie war ziemlich dünn, womöglich die dünnste, die ich je angelegt hatte. Sogar die Akte der Miniaturpferde war dicker und strukturierter. Ich sah mir die Single der Tearjerkers an, Lydias erster Band. Ich legte die B-Seite auf, »Never Going Home«. Die Band war laut und schnell und virtuos und sehr gut. Kein Wunder, dass sie danach groß rauskam.
Ich betrachtete das Cover. Produziert von Kristie Sparkle. Nach zwei Minuten im Internet hatte ich die Frau, die früher Kristie Sparkle war, gefunden. Sie nannte sich jetzt Kat Dandelion, war Kräuterkennerin und lebte im Marin County. Auf ihrer Facebook-Seite schrieb sie:
Ich bin auch bekannt unter den Namen Kristie Sparkle, Mistress Kitty, Kris K., Kristine Katalyst und Kristen Bachman. Ich war Musikproduzentin, Sexarbeiterin, Zirkusartistin und ausgebildete Body-Piercerin. Heute lebe ich im Marin County und arbeite mit Kräutern. Wunder sind mein Spezialgebiet.
Die Fahrt über die Golden Gate Bridge verliert nie ihren Reiz. Die Schönheit ist immer eine andere, je nachdem, bei welchem Wetter und zu welcher Tageszeit man unterwegs ist. Auf der anderen Seite der Bucht verließ ich den Highway und fuhr auf den Sir Francis Drake Boulevard, der mir schon immer so unwirklich vorkam – stets rechnete ich damit, dass ein Mann mit Federhut und Krawattenschal aus dem Gebüsch springen und mich auf den Highway 101 zurückschicken würde. Ich fuhr in die Wälder rund um Fairfax. Kat Dandelions Haus stand auf einem Hügel, der in jedem anderen Bundesstaat als Berg durchgegangen wäre. Ein Zaun aus Ästen umgab das Grundstück, gerade hoch genug, um die Rehe draußen zu halten. Eines stand dahinter und beäugte die Kräuterbeete.
Bevor ich aus dem Auto stieg, holte ich zwei Würfel aus meiner Handtasche. Einer war aus Lapislazuli, der andere ein Türkis. Ich warf sie auf den Beifahrersitz.
Einserpasch. Wenig ermutigend. Womit ich mir wohl eine zusätzliche Prise verdient hatte. Die Wirkung der Lines, die ich vor der Fahrt geschnupft hatte, begann zu verblassen.
»Sie mögen keine Kräuter«, sagte Kat, die aus dem Haus gekommen war, um mich zu begrüßen. Sie sprach von den Rehen. »Zu stark. Aber das fällt ihnen erst wieder ein, wenn sie alle probiert und halb totgetrampelt haben.«
Kate war um die fünfzig und trug ein langes, weißes Kleid und einen weißen Turban mit Goldnadel. Sie bat mich in den Raum, der früher einmal die Küche gewesen war, inzwischen aber als Sprech- und Untersuchungszimmer genutzt wurde. An den Wänden aufgereiht standen Gläser mit getrockneten Kräutern. Die Etiketten trugen lateinische Namen:
Camellia sinensis, Trifolium pratense, Amanita muscaria.
Der lange Untersuchungstisch war leer.
Wir saßen an einem Holztisch. Mir wurde unangenehm bewusst, dass ich nicht stillsitzen konnte, woraufhin ich noch nervöser wurde. Kat Dandelion schien das nicht zu stören.
»Nun«, sagte sie. »Wie kann ich Ihnen helfen?«
»Am Telefon habe ich gelogen«, sagte ich. »Ich bin nicht wegen der Kräuter gekommen. Ich bin wegen Lydia Nunez hier.«
Kat schien wenig überrascht.
»Warum haben Sie gelogen?«, fragte sie.
»Ich hatte Angst, dass Sie nein sagen«, erklärte ich. »Ich bezahle gern für Ihre Zeit. Wir hatten eine Sitzung vereinbart.«
Sie streckte den Arm aus und berührte mein Handgelenk. Während sie meinen Puls überprüfte, studierte sie meine Fingernägel.
»Nur, wenn ich etwas gegen Ihre Leberhitze tun darf«, sagte sie.
»Ich kenne da schon jemanden«, sagte ich.
»Und tun Sie, was er Ihnen rät?«
»Eigentlich nicht«, sagte ich.
»Es zieht sich bis in Ihre Lunge. Heiß und trocken.«
Sie stand auf und machte sich daran, verschiedene Kräutergläser von den Regalen zu nehmen.
»Wenn ich Ihnen etwas Bitteres anmische«, fragte sie, »werden Sie es nicht trinken, oder?«
»Wahrscheinlich nicht«, sagte ich.
Sie nickte und beschäftigte sich weiter mit ihren Kräutern.
»Was möchten Sie denn wissen?«, fragte sie mit dem Rücken zu mir. »Wie ich hörte, ist ihr Mann ermordet worden.«
»Ja, das stimmt«, sagte ich. »Deswegen bin ich hier. Ich bin Privatdetektivin. Außerdem bin ich mit ihnen befreundet. War ich.«
»Dann sind Sie es nicht mehr?«, fragte sie.
»Doch«, sagte ich, »aber Paul ist tot.«
»Lydia war kurz vor seinem Tod bei mir«, sagte sie.
»Wirklich?«
Sie drehte sich um, noch mehr Gläser in der Hand. Sie stellte die Gläser auf den Tisch und
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