Das Ende der Welt
habe den salzigen, metallischen Blutgeschmack ihrer Wunden auf der Zunge. Ich wischte mir die Tränen aus dem Gesicht.
»Aber als sie wieder runterkam«, erzählte Chloe mir meinen eigenen Traum weiter, »war sie kein Pfau mehr. Die Sonne hatte ihre Federn verkohlt und ihren nackten Kopf verbrannt. Nun war sie ein Geier. Das weiseste Tier auf Erden, das Tier, das alle Geheimnisse kennt.«
Ich flüstere Chloe ins Ohr, sie windet sich.
»Ist schon okay«, flüstere ich ihr ins Ohr, »du hast es nicht gewusst. Bald werden wir wieder Geier sein. Dann müssen wir nicht mehr so tun, als hätten wir keine Ahnung. Wir müssen zuerst nur ein bisschen wachsen, mehr nicht.«
»Claire? Claire, bist du noch dran?«
»Sorry«, sagte ich. »Ich bin da. Ich habe nur … ich erinnere es anders. Macht nichts.«
»Ja«, sagte Chloe, »es klingt wirklich wirr, aber damals fand ich es vollkommen logisch. Es ergab einfach Sinn, bis ins letzte Detail. Wie ein Gedicht.«
Wir schwiegen. Meine Hände zitterten.
»Claire?«, fragte Chloe noch einmal. »Bist du noch da?«
»Ja«, sagte ich. Ich war viel zu sehr da. Chloe erzählte von ihrem Mann, den Kindern, ihrem Job. Ihr Leben klang echt schön.
»Und alles nur wegen euch«, sagte sie. »Alles Gute, was mir je passiert ist, ist nur wegen dir und Tracy passiert. Weil ihr gekommen seid und mich da rausgeholt habt. Weil ihr nicht aufgegeben habt.«
»Nein«, sagte ich, »es war alles deinetwegen. Weil
du
nicht aufgegeben hast.«
»Nein«, sagte sie und fing zu weinen an. »Ich habe zwei wunderschöne Kinder, es ist wie ein Wunder, sie sind ganz normal und kein bisschen verrückt. Nur deinetwegen. Weil du mit mir geredet hast. Weil du alles verändert hast.«
Nun erinnerte ich mich. Wie ich mitten in der Nacht aufgewacht war und Tracy angerufen hatte. Wie übel mir von den Tabletten gewesen war.
Wir müssen sie da rausholen. Ich hatte einen Traum.
»Und mit Tracy«, sagte Chloe, »habe ich nie wieder gesprochen, nur dieses letzte Mal.«
»Keine von uns …«, sagte ich, unterbrach mich aber sofort. Die Oxycodon begann zu wirken. Ich spürte annähernd gar nichts mehr, aber ich hatte einen Kloß im Hals.
»Das letzte Mal?«, fragte ich. »Wann hast du denn zum letzten Mal mit ihr gesprochen?«
»Nachdem ich schon eine Weile in L.A. gelebt hatte«, erklärte Chloe. »Tracy hatte mich aufgespürt, sie hatte die Telefonnummer meiner Tante herausgefunden und mich angerufen.«
Ein kalter Schauer kroch mir über den Rücken.
»Wann?«
»Vielleicht ein Jahr nach meinem Umzug«, sagte sie. »Vielleicht noch später.«
Tracy war am 11 . Januar 1987 verschwunden. Chloe war am 14 . Januar 1986 in den Bus nach Los Angeles gestiegen.
»Dann ist es wahr, dass niemand je von ihr gehört hat?«, fragte sie. »Sogar du nicht?«
»Ja«, sagte ich, »es ist wahr. Aber ich habe da gerade einen Einfall.«
Chloe wollte mehr wissen, aber ich wollte es ihr nicht verraten. Es war nur ein Einfall.
Aber ein verdammt guter.
Wir verabschiedeten uns voneinander und versprachen, in Kontakt zu bleiben. Was wir vielleicht tatsächlich tun würden.
Aber zunächst einmal legte ich auf und streckte mich auf dem Boden aus.
Ich hatte mir immer eingebildet, eine Menge über das Leben zu wissen, dabei lag ich möglicherweise mit nichts so falsch wie mit meiner eigenen Geschichte.
Nach dem Auflegen sah ich, dass Claude angerufen hatte. Ich fühlte mich schwindelig und schwach. Ich trank ein Glas Orangensaft, duschte und zog eine dünne Line Koks, bevor ich ihn zurückrief.
»Hey«, sagte ich, »hallo. Ich bin’s. Was gibt’s?«
Claude antwortete nicht sofort. Ich spürte Blut aus meiner Nase tropfen und wischte es mit dem Handrücken ab.
»Ist alles in Ordnung?«, fragte Claude.
»Natürlich«, sagte ich, »alles in Ordnung. Was gibt’s?«
»Ich glaube, ich habe die Gitarre gefunden«, sagte er. »Ich habe alle Rechnungen von Paul durchgesehen und sie gefunden. Die verschwundene Gitarre. Es ist eine Wandre. Sie wurde gestohlen. Er hat sie vor zwei Jahren gekauft, und ich bin mir ziemlich sicher, dass er sie nicht weiterverkauft oder eingetauscht hat. Sie ist einfach verschwunden. Hilft dir das weiter?«
Ich sagte Claude, ich würde ihn zurückrufen. Ich verdrängte Chloe und Tracy und alles andere und setzte mich an den Computer. Die Wandre war eine seltene Gitarre. Die meisten Leute kannten die Marke nicht. Wenn man einen Käufer fand, konnte man ein hübsches Sümmchen erzielen, aber
Weitere Kostenlose Bücher