Das Ende der Welt
Chloe war achtzehn, Reena neunzehn. Reena jobbte in einem Secondhandladen in der 7 . Straße. Chloe arbeitete für einen Filmemacher namens Ace Apocalypse. Er zahlte fast nichts, aber sie liebte den Job. Eines Tages würde sie selber Filme drehen, wenigstens behauptete sie das.
Chloe und Reena teilten sich eine Wohnung in der 5 . Straße in der Nähe der Avenue A. Tracy hatte die beiden vor einem Jahr im Sophie’s kennengelernt, einer Bar am Ende der 5 . Straße, dieselbe Bar, in der wir nun vor unserem lauwarmen Bier saßen. Chloe und Reena mochten Tracy und behandelten sie wie eine kleine Schwester. Reena gab ihr im Klamottenladen Rabatt, Chloe lud sie in Clubs, zu Vernissagen und nächtlichen Happenings in Alphabet City und Brooklyn ein.
Und nun war Chloe verschwunden. Mitsamt ihren Schlüsseln.
Spät am Montagabend nahm Tracy den Anruf entgegen. Es war Januar, die Ferien waren fast vorbei, die Schule würde bald wieder anfangen. Am nächsten Tag trafen Tracy, Kelly und ich uns im Sophie’s mit Reena und ihrem Freund Alex. Reena und Alex sahen müde und verkatert aus, sie hatten Augenringe und trugen schmutzige, zerknitterte Klamotten. Ihre Hände zitterten, sie rauchten Kette. Nicht der richtige Moment für harte Drinks; beide hielten sich an einem Bier vom Fass fest. Reena trug einen Leopardenmantel aus Kunstfell mit breitem Kragen, den sie eng um sich gewickelt hatte. Über der Bar blinkte noch die Weihnachtsdeko.
Reena und Alex hatten Chloe zum letzten Mal am Donnerstagabend gesehen. Reena und Alex waren zu Hause geblieben, um fernzusehen. »Wie ein altes Ehepaar«, sagte Reena ein bisschen verschämt. Chloe kam gegen Mitternacht nach Hause. Ace Apocalypse, der Filmemacher und ihr Arbeitgeber, drehte gerade eine Dokumentation über eine Band namens Vanishing Center. Der Film hieß:
Das Ende der Welt.
Chloe und Reena wechselten ein paar Worte, bevor Chloe zu Bett ging. Kurz darauf ging Alex nach Hause. Er musste am nächsten Tag früh raus – er arbeitete auf dem Bau –, aber Reena hatte frei und wollte ausschlafen. Sie wurde am nächsten Morgen um elf vom Klingeln des Telefons geweckt. Ace Apocalypse rief an. Er wollte wissen, wo Chloe stecke. Sie war nicht zur Arbeit erschienen. Reena ging zu Chloes Zimmer, um sie aufzuwecken. Aber Chloe war nicht da.
Reena sagte, sie habe sich Sorgen gemacht, aber keine großen.
»Ich meine, so was kann ja mal vorkommen, oder?«, fragte sie durch eine Camel-Qualmwolke. »Vielleicht hat sie blaugemacht, vielleicht brauchte sie einfach mal einen freien Tag. Und Ace ist ein Spinner. Ein durchgedrehter, verrückter Spinner. Ich dachte mir, bestimmt irrt er sich in der Zeit oder im Tag. Vielleicht steht Chloe sich irgendwo in Queens die Beine in den Bauch und wartet auf ihn. Könnte doch sein, oder? Außerdem hatte sie am Abend nicht ausdrücklich gesagt, dass sie morgens zur Arbeit gehen würde. Ich war einfach davon ausgegangen. Für mich war es keine große Sache, versteht ihr?«
»Aber am Freitagabend war sie immer noch nicht da«, fuhr Alex fort. Er sah genauso besorgt aus wie Reena. Ich machte mir eine Notiz
(Alex: guter Freund).
»Ja, und da kam es uns zum ersten Mal komisch vor. Wir haben Ben angerufen …«
»Dieser Typ, mit dem sie mal zusammen war«, erklärte Reena, »kennt ihr ihn? Er arbeitet in der Horseshoe Bar an der Ecke 7 . und B.«
Ich nickte.
»Flüchtig«, sagte Kelly. »Erzähl weiter.«
Ben. Horseshoe,
schrieb ich.
Ex-Freund.
»Genau«, sagte Reena, »früher haben sie sich oft getroffen, aber soweit ich weiß, ist das schon eine Weile her. Aber ich dachte mir, na ja, fragen kostet nichts.«
Wir drei Detektivinnen nickten eifrig; es war in jedem Fall einen Versuch wert.
»Er sagte, er habe sie seit Ewigkeiten nicht gesehen«, fuhr Reena fort. »Wir haben uns Sorgen gemacht, aber wir wollten nicht albern sein. Immerhin ist sie erwachsen, richtig? Es ist ja nicht so, dass sie sich bei uns abmelden muss. Wir sind schließlich nicht ihre Eltern. Am Sonntag rief dann ihre stinksaure Freundin Rain an, um eine ellenlange Nachricht auf dem Anrufbeantworter zu hinterlassen. Offenbar war Chloe für den Abend mit ihr verabredet gewesen, seit Ewigkeiten, sie wollten schick essen gehen und sich dann im Theatre Eighty einen Film ansehen.«
»Welchen Film?«, fragte ich.
Reena sah mich an. »Welchen Film? Ist doch egal!«
»Nichts ist egal«, kam Tracy mir zu Hilfe.
Theatre
80
,
schrieb ich
. Sonntag, Abendvorstellung.
Reena zuckte die Achseln.
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