Das Ende der Welt
seinem Todestag. Lydias Mantel hing über dem Treppengeländer, genau dort, wo sie ihn damals hingeworfen hatte. Überall im Haus lagen Platten, CDs, musikalische Fachliteratur und kleinere Instrumente wie Maracas und Kuhglocken herum.
Ethnologische Musikwissenschaft: Nordperu. Der Preiskatalog für gebrauchte Gitarren
2007
. Geschichte der Narcocorridos. Protest und Harmonie im französischen Volkslied.
Das Haus wirkte sauber, aber nicht steril. Antikmöbel, gerahmte Musikposter, alte, handgemalte Ladenschilder mit Hunden und Katzen. Die Einrichtung hätte vermuten lassen, dass hier zwei sehr viel jüngere Menschen lebten.
Im Salon befand sich das Studio, in dem Lydia ihre Instrumente aufbewahrte, probte und Aufnahmen machte. Ich trat ein und sah mich um. Ich fühlte nichts. Lydia hatte in den Monaten vor Pauls Tod eine kreative Pause eingelegt und danach sowieso. Sie sagte, die Inspiration sei ihr abhandengekommen. Ich wusste nicht genau, was das heißen sollte. Alles im Studio war von einer dünnen Staubschicht überzogen. Ihre Gitarren lagerten in einem mit Bolzen am Boden befestigten Safe; sie war in einer armen Gegend aufgewachsen und würde sich von keinem etwas wegnehmen lassen, nie wieder. In Pauls Kellerstudio gelangte man durch eine Tür, die von der Küche abging. Das Vorhängeschloss war offen gewesen, als die Polizei in Pauls Todesnacht kam. Detective Huong hatte einen Schlosser bestellt, der es erneuerte. Sie hatte verhindern wollen, dass gewöhnliche Einbrecher und Plünderer den Schaden noch vergrößerten.
Eigentlich war Huong ganz okay. Für eine Polizistin.
Lydia konnte nicht mit Sicherheit sagen, ob der Dieb das Vorhängeschloss geknackt hatte oder ob Paul es offen an der Tür hatte hängen lassen. Er war nachlässig. Sie hatte mit ihm darüber reden wollen, das erzählte sie mir verbittert am Telefon. Als ob es etwas verändert hätte.
Ich habe versucht, mit ihm über das verdammte Schloss zu reden. Das verdammte Schloss hat nichts getaugt.
Am Bund, den Lydia mir geschickt hatte, hing auch der Schlüssel für das Vorhängeschloss. Ich öffnete es und stieg ins Studio hinunter. Die reinste musikalische Trümmerhalde: Kastagnetten, Gitarrensaiten, eine Mundharmonika, ein Laptop, ein altmodisches Tonbandgerät. Die Herstellernamen lasen sich wie ein melancholisches Gedicht: Vox, Harmony, Voice of Music.
Paul hatte achtzehn Gitarren besessen. Zum Zeitpunkt des Verbrechens hatten zehn davon offen auf Ständern herumgestanden. Fünf waren gestohlen und fünf zurückgelassen worden. Die restlichen acht befanden sich in einem abgeschlossenen Schrank. Niemand hatte sie angerührt. Vermutlich war während des Blitzeinbruchs keine Zeit dafür geblieben.
Fünf Gitarren gestohlen, fünf zurückgelassen. Die naheliegende Begründung, dass der Dieb nicht alle mitgenommen hatte, waren Zeit und Aufmerksamkeit. Er hatte erstens zu wenig Zeit gehabt und hätte zweitens zu viel Aufmerksamkeit erregt. Dann wiederum waren die Dinge manchmal anders, als sie schienen.
Fünf gestohlen: eine akustische Favilla, eine Gibson J- 2000 , eine Lucite Dan Armstrong, eine Les Paul und eine Telecaster. Fünf zurückgelassen: eine Teisco Del Rey, eine Maccaferri aus Kunststoff, eine kleine, aus Japan importierte Westerngitarre mit aufgemalten Cowboys, eine in unterschiedlichen Grüntönen lackierte Gretsch Anniversary und eine akustische Guild.
Warum jene fünf gestohlen? Warum jene fünf zurückgelassen?
Man könnte doch meinen, ein Gitarrenkenner hätte die wertvollen Stücke mitgenommen und den Schrott liegen lassen. Ein unmusikalischer Dieb hätte wahllos zugegriffen, sich eventuell noch an bekannten Namen wie »Gibson« oder »Fender« orientiert und ansonsten das Zufallsprinzip walten lassen.
Aber was gestohlen worden war, lag finanziell betrachtet im Mittelfeld.
Die Gitarren waren jeweils zwischen zweihundert und zweitausend Dollar wert. Wahrscheinlich hatte der Dieb den Wert der einzelnen Instrumente geraten und sich dabei verschätzt. Ich hatte mir von Lydia eine Liste der gestohlenen und zurückgebliebenen Gitarren geben lassen und sie einigen Händlern gezeigt. Die meisten Leute würden die Les Paul für einen Schatz halten, dabei handelte es sich um eine Fälschung, kaum ein paar Hunderter wert. Und auf dem Schwarzmarkt würde der Dieb, der vermutlich auch der Mörder war, noch viel weniger dafür bekommen. Besser als nichts? Die gestohlene Telecaster war ein Korea-Import und nicht mehr als zwei- oder
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