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Das Ende der Welt

Das Ende der Welt

Titel: Das Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sara Gran
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wie ich es erwartet hätte. Ich warf einen Blick ins Eisfach: Eis, gefrorene Veggie-Burger, allerlei uninteressante Lebensmittel. Ich untersuchte die Küchenschränke, das Geschirrfach, den Geschirrspüler, das Gewürzregal.
    Nichts. Ich tat das bereits zum vierten Mal, mindestens. Ich hatte beim ersten Mal nichts gefunden und beim letzten Mal nichts, und diesmal fand ich genauso wenig.
    Ich holte eine Stablampe aus meiner Handtasche und leuchtete unter die Möbel. Nichts. Ich untersuchte das Sofa. Ich hatte es zuvor schon untersucht, aber Sofas waren komplexe Gebilde. So wie Münzspielautomaten. Alles verschwand darin, meistens auf Nimmerwiedersehen. Nur selten kam wieder etwas heraus. Und auch das nur, wenn man beharrlich blieb, das nötige Glück hatte und die Funktionsweise der Maschine verstand.
    Ich hatte das Sofa zwar untersucht, aber diesmal untersuchte ich es gründlich. Ich riss Kissen und Polster herunter und stapelte sie in einigen Metern Entfernung auf. Ich bestaunte das Sofagerippe mit seinen schmalen Spalten und engen Ritzen. Ich ging zu meinem Auto, öffnete den Kofferraum und suchte den Slim Jim, mit dem sich verschlossene Autotüren öffnen ließen. Im Grunde handelte es sich um einen langen, sehr dünnen, keine drei Zentimeter breiten Metallstreifen. Ich nahm ihn und ging zurück ins Haus. Mit der Hand fuhr ich alle Sofaritzen ab. Danach fuhr ich dieselben Ritzen noch einmal mit dem Slim Jim ab, so langsam wie möglich. Zuerst fand ich Reste von Cornflakes. Ich legte sie beiseite. Dann fand ich ein paar Vierteldollar und zum Schluss eine Fünfcentmünze. Ich war unterhalb der Rückenlehne zugange, als ich auf etwas Hartes, Festes stieß.
    Ein Energiestrom lief von dem kleinen Gegenstand durch das Werkzeug in meine Hand, und ich wusste sofort, ich hatte einen Hinweis gefunden.
    Ein Hinweis ist ein Wort in einer fremden Sprache, und Rätsel sprechen die Sprache der Träume. Rätsel sprechen die alchimistische Sprache der Vögel. Es gibt kein Wörterbuch. Nicht einmal für mich.
    Vorsichtig zog ich den Slim Jim heraus und legte ihn beiseite. Das Werkzeug war hart, und ich wollte kein Risiko eingehen. Ich versenkte meinen Arm in der Ritze, so tief es ging, bis mein Schultergelenk schmerzte. Ich tastete die Spalte mit der Hand ab, so gut es ging, und nach einigen Sekunden stieß ich auf etwas Hartes, Rundes. Langsam und vorsichtig zog ich es aus dem Sofa ans Tageslicht.
    Es war ein Pokerchip.
    Paul war kein Spieler. Einmal hatte ich ihn nach Reno mitgenommen. Für einen Fall hatte ich einen Geldkoffer von einem Arzt in Reno, der sich auf Beruhigungsmittel und hausgemachte Leberkuren spezialisiert hatte, zu einer Frau in Needles, Arizona, bringen müssen – eine lange Geschichte, aber anders hatte sich der Fall der Taube mit den gebrochenen Flügeln seinerzeit nicht aufklären lassen. Da ich in Reno übernachten musste, beschloss ich, aus der Not eine Tugend zu machen und mich ein bisschen zu amüsieren. Ich spielte am Würfeltisch und ein oder zwei Stunden beim Baccarat mit, nur Paul spielte gar nichts, nicht einmal am Automaten. Er sagte, er kenne sich damit nicht aus und es reiche ihm, mir zuzusehen.
    Nach einer Weile erkannte ich den wahren Grund, warum er nicht spielte. Er hatte keine Angst vorm Verlieren, er hatte Angst vorm Gewinnen. Er schämte sich schon genug für seinen Reichtum. Das Letzte, was er wollte, war noch mehr Geld.
    Ich warf den Chip in eine kleine Plastiktüte und steckte ihn in meine Handtasche. Für heute hatte ich genug getan. Ich war seit zwei Stunden hier und war mir ziemlich sicher, gefunden zu haben, wonach ich gesucht hatte. Ich stand auf, klopfte mir den Staub von den Kleidern, ging zur Toilette, wusch mir Hände und Gesicht, zog meine Jacke an und griff nach den Autoschlüsseln …
    Die Schlüssel. Da fiel es mir wieder ein. Ich lief an die Haustür und betrachtete sie. Man brauchte den Schlüssel nicht, um aus dem Haus zu kommen, aber man brauchte ihn, um hinter sich abzuschließen.
    Ich legte mich aufs Sofa und dachte nach. Wer immer Pauls Mörder war, hatte den Schlüssel nicht gebraucht. Er hatte ihn trotzdem mitgenommen.
    Paul war mit seinem Schlüssel ins Haus gekommen. Hatte der Killer ihn begleitet? Hatte er angeklopft? Oder gar im Haus gewartet?
    Er war irgendwie ins Haus gekommen.
    Er – oder sie – hat Paul erschossen, und dann hat er – oder sie – die Schlüssel mitgenommen.
    Der Mörder hat hinter sich abgeschlossen.
    Warum hätte er das tun

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