Das Ende der Welt
einem verblassten Ziegelgebäude, das wegen Umbauarbeiten dauerhaft geschlossen war; aber manchmal kam das Büchermobil vorbei, ein glänzender Wohnwagen, den irgendein Gutmensch mit Comics, Liebesromanen, Detektivgeschichten, ein paar Sweet-Valley-High-Taschenbüchern und dem Cynthia Silverton Mystery Digest ausgestattet hatte. Der Cynthia Silverton Mystery Digest war ein kleinformatiges Magazin, in dem sich alles um die jugendliche Detektivin und Collegestudentin Cynthia Silverton drehte. Jede Ausgabe beinhaltete ein neues Abenteuer, einen wahren, noch nicht gelösten Kriminalfall, Schilderungen echter Verbrechen sowie eine Unzahl von verführerischen Kleinanzeigen für Detektivfernkurse, Fingerabdruckkästen und andere wichtige Arbeitsmaterialien. Ich besaß die Cynthia-Silverton-Agentinnenkamera, einen winzigen, viertklassigen Minox-Nachbau, der in meine Handfläche passte, und auch das Cynthia-Silverton-Fingerabdruck-Set, das uns überhaupt erst auf den Weg des Verderbens gebracht hatte.
Das ungelöste Rätsel des Monats hieß »Der Fall der ermordeten Erbin«. Lana Delfont war in ihrem Apartment an der Park Avenue ermordet aufgefunden worden. Die Tür war von innen verriegelt. Wer kam als Täter in Frage? Warum legte der Mörder Lanas Leiche den kostbaren Diamantschmuck an, statt ihn zu stehlen?
»Die Tochter war’s«, sagte Tracy.
»Ja«, sagte ich. »Die Ohrstecker.«
»Genau«, sagte Tracy. »Nur eine Tochter würde einer Toten Ohrstecker anlegen.«
»Nur eine Tochter würde so oft zustechen«, sagte ich.
Tracy nickte. Sie hatte keine Mutter mehr, denn ihre war bei einem Autounfall ums Leben gekommen, als Tracy zwei Jahre alt war. Aber sie hatte davon gehört.
Endlich erreichte der Zug den Bahnhof. Wir machten uns auf die Kälte draußen gefasst.
Wir liefen zum Theatre 80 . Im Kassenhäuschen saß eine gelangweilte Punkerin mit pinken Haaren und einem Leopardenpulli.
Boulevard der Dämmerung,
stand auf dem Leuchtschild.
Nur drei Abende.
»Hi«, sagte ich durch die dicke Plexiglasscheibe. »Kannst du mir vielleicht sagen, was am letzten Samstag lief?«
»Fünf Dollar«, antwortete sie.
»Ich will kein Ticket kaufen«, sagte ich, »ich will nur was fragen. Weißt du, was letzten Samstagabend hier lief?«
Das Mädchen zeigte nach links. Ich drehte den Kopf, konnte aber nichts sehen.
»Kannst du nicht einfach meine Frage beantworten?«
Das Mädchen zeigte noch einmal und wandte sich dann ab.
»Warum bist du so eine Fotze?«, fragte ich.
Sie zuckte die Achseln.
»Fick dich«, sagte ich. »Blöde Fotze.«
Sie drehte sich noch einmal zu mir um und zeigte mir den Mittelfinger.
»Fick dich, du Nutte«, sagte sie.
»Guck mal«, sagte Tracy. Links von mir hing ein Poster von
Belle de Jour.
Auf dem kleinen Schild darunter stand: Samstags 20 / 22 / 24 .
»Den kenne ich nicht«, sagte Tracy. »Wovon handelt er?«
Wieder hatte ich das Gefühl, im Wald zu stehen. Irgendwo hatte ich eine falsche Abzweigung gewählt und mich verlaufen.
Wir holten uns bei Stromboli’s gegenüber ein Stück Pizza, und ich erzählte Tracy von
Belle de Jour,
von dem Dicken mit den Heuschrecken und dem Gangster mit den Goldzähnen. Danach gingen wir zu Sophie’s, der Bar gegenüber von Reenas und Chloes Apartment. Wir kauften uns Bier für einen Dollar pro Halbliterglas. Jemand hatte in der Jukebox die Pogues gedrückt. Der alte Mann an der Bar murmelte böse und argwöhnisch vor sich hin.
Später liefen wir zur Horseshoe Bar, wo wir hoffentlich Chloes Ex-Freund Ben antreffen würden.
Als wir die erste Bestellung aufgaben, trat er gerade seine Schicht an. Soweit ich es beurteilen konnte, war Ben perfekt. Er war einundzwanzig. Er hatte kurzes, braunes Haar, trug Levi’s und ein Hemd mit hochgekrempelten Ärmeln, aus denen makellose, olivfarbene Unterarme ragten. Einer davon war mit einem gebrochenen Herzen und dem Schriftzug
Love Kills
tätowiert.
Wir wussten beide, wer er war, aber er erinnerte sich nicht an uns. Es schien ihm auch egal zu sein.
»Ja«, sagte er verbittert, als wir ihm erklärten, dass wir auf der Suche nach Chloe waren. »Ich habe verdammt noch mal keine Ahnung, wo sie ist, und selbst wenn ich was wüsste, würde ich es euch garantiert nicht erzählen.«
»Was?«, sagte ich. »Warum nicht?«
»Für wen hältst du uns?«, fragte Tracy.
»Ich weiß genau, wer ihr seid«, sagte Ben, entfernte sich und tat so, als nähme die Arbeit ihn ganz in Anspruch.
Tracy und ich sahen einander wortlos an. Ein
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