Das Ende der Welt
setzten uns an den großen Holztisch. Meine Mutter Lenore war immer noch eine erschreckend schöne, überirdisch schöne Frau. Sie trug das blonde Haar zu einer altmodischen Tolle eingedreht und hatte Make-up-Reste vom Vorabend im Gesicht, aber das machte nichts. Sie hatte hohe Wangenknochen, und ihre Gesichtshaut war so straff, dass man Münzen darauf hüpfen lassen konnte. Ihre blauen Augen strahlten. Ihr österreichischer Akzent hatte in einer Reihe europäischer Internate, die sie eins nach dem anderen vor die Tür gesetzt hatten, seinen letzten Feinschliff erhalten. Männer traten ihretwegen mitten auf dem Highway auf die Bremse. Für meine Mutter schossen Männer ihr Vermögen in den Wind. Das alles und noch viel mehr hatten Männer ihr zuliebe getan, woran sie uns oft und gern erinnerte.
Eines Tages aber verliebte sie sich in meinen Vater, und damit begann in ihren Augen der stetige, langsame Niedergang.
Über dem Kaminsims leuchtete ein helles, von grauem Staub umrandetes Rechteck, genau dort, wo bis zu seinem Verkauf vor einigen Jahren ein Siebdruckporträt meiner Mutter von Andy Warhol gehangen hatte. Wir betrachteten den leeren Fleck.
»Ach«, sagte meine Mutter, »das Auto.«
Meine Mutter fuhr einen kleinen, gelben Karmann-Ghia. Er wurde mindestens zweimal jährlich abgeschleppt, denn die Deutung von Straßenschildern und Parkuhren gehörte zu jener Sorte von Strapazen, für die Lenore keine Zeit hatte. Die Strapaze, das Auto vom Abschlepphof an der Schiffswerft von Brooklyn zu holen, zählte nicht, weil sie auf eine andere Person entfiel.
(Ein paar Monate später tauchte eines Morgens ein Mann bei uns auf, der Lenore eine Stunde lang auf Italienisch anbrüllte. Sie brüllte zurück. Dann fuhr der Mann mit ihrem Auto davon. Ich sollte es niemals wiedersehen.)
Meine Mutter trat ans Fenster. Sie hatte ein paar Meter neben unserem Grundstück vor einem Hydranten geparkt. Wir hatten eine eigene Einfahrt, aber die wurde seit Wochen von einem kaputten Auto blockiert.
Bislang waren weder der Wagen vor unserer Einfahrt noch der Karmann-Ghia vor dem Hydranten irgendwem aufgefallen. Die Verkehrspolizei fuhr nicht gerade regelmäßig in unserem Viertel Streife. Die Straße war grau und voller Müll, und rechts und links der Fahrbahn überdauerte alter, schwarzer Schnee in kleinen, harten Haufen.
»Baby«, sagte sie, »kümmerst du dich drum?«
Sie sah aus, als würde sie gleich losweinen.
»Klar«, sagte ich, »nach dem Kaffee, okay?«
Sie nickte. Sie betrachtete mich lange, so als versuche sie, mich wirklich zu sehen.
»Was ist?«, fragte ich verärgert.
»Dir geht es gut, oder?«, fragte sie. »Alles ist in Ordnung?«
»Natürlich«, sagte ich, »natürlich ist alles in Ordnung.«
Sie stand auf und kam näher. Weil ich fürchtete, umarmt zu werden, machte ich mich steif, aber dann legte sie mir nur eine Hand auf den Kopf.
»Ja«, sagte sie, »dir geht es immer gut.«
Sie klang verbittert, als hätte ich etwas falsch gemacht. Als erwarte sie von mir, am Boden zerstört zu sein.
Ihre Finger krallten sich in meinen Kopf wie ein Falke in die erbeutete Maus. Kurz fürchtete ich, vom Stuhl zu rutschen.
Lenore drückte zu. Ich spürte ihre Fingernägel in meiner Kopfhaut.
Irgendwann ließ sie los, abrupt, als hätte ich ihr die Hand verbrannt.
»Gib mir Geld«, sagte ich nach einer Weile, »dann bitte ich die Jungs vom Ende der Straße, die Schrottkarre wegzuschieben.«
An dem Abend fuhren Tracy und ich mit der U-Bahn nach Downtown, um dem letzten, besten Hinweis nachzugehen – dem Kinofilm, zu dem Chloe vor ihrem Verschwinden verabredet gewesen war. Wir stiegen von der G in die F um und fuhren ins East Village. Unser New York war überschaubar: Brooklyn, ein Teil von Queens und das Manhattan südlich der 14 . Straße.
Weniger als fünfzehn Kilometer trennten mein Elternhaus von der Second Avenue. Mit der U-Bahn brauchte man bis Downtown siebenundsechzig Minuten. Ich las den Cynthia Silverton Mystery Digest, den ich am selben Vormittag beim Bücherbus ausgeliehen hatte. Tracy kannte das Heft schon. Sie griff nach einer Ausgabe der New York Post, die jemand liegengelassen hatte.
»Koch ist ein Arschloch«, sagte sie. »Komm, wir tauschen.«
»Nein«, sagte ich.
Jeder Monat hielt genau einen Höhepunkt bereit, der uns so regelmäßig heimsuchte wie unsere Periode: der neue Cynthia Silverton Mystery Digest. In unserem Winkel von Brooklyn gab es keine richtige Bücherei, nur ein Provisorium in
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