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Das Ende der Welt

Das Ende der Welt

Titel: Das Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sara Gran
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aber eigentlich bin ich ein gutmütiger Mensch. Ich überlege hin und her, damit Lydia am Ende nicht als Alleinschuldige dasteht … Im Grunde konnte sie nie so recht glauben, dass sie geliebt wurde. Oder auch nur gemocht. Sie kaufte es einfach niemandem ab. Mir nicht, den Männern nicht, niemandem. Eigentlich ist es kaum zu glauben. Sie war – ist – so intelligent, so schön, so begabt, so beliebt. Sie ist wie eine Pflanze, die man zu lange vernachlässigt hat, und wenn man sie dann gießen will, perlt das Wasser einfach ab. Kennst du das?«
    Ja, das kannte ich. Ich hatte unzählige Grünpflanzen auf dem Gewissen.
    »So ungefähr ist es auch mit ihr«, sagte sie. »Diese Metapher ist besser als das Bild mit den Antennen. Das war nicht stimmig. Wie eine Pflanze, die zu verdorrt ist, um Wasser aufzunehmen. Und wenn man es eimerweise draufkippt. Jedenfalls haben die Männer sich damals auf den Kopf gestellt ihretwegen, und alle Frauen wollten mit ihr befreundet sein. Wahrscheinlich ist es bis heute so. Und für eine begrenzte Zeit konnte sie sich darauf einlassen. Sie konnte akzeptieren, dass eine bestimmte Person mit ihr Zeit verbringen oder mit ihr schlafen wollte. Aber wenn es drauf ankam, war sie der Überzeugung, dass niemand sie liebte. Nicht richtig«, sagte Delia.
    »Glaubst du, dass Lydia Paul betrogen hat?«, fragte ich.
    Delia zuckte die Achseln. »Keine Ahnung. Ich habe seit Jahren nicht mehr mit ihr gesprochen. Ob sie grundsätzlich treu war? Nein, früher nicht.«
    Delia zündete sich eine Zigarette an und sah aus dem Fenster. Ich folgte ihrem Blick. Schwer zu beurteilen, ob die Frau auf dem Gehweg eine Prostituierte war oder einfach nur spazieren ging. Sie winkte einen Wagen heran, beugte sich ins Fenster. Sie wurde mit dem Fahrer einig und stieg ein. Vielleicht war sie eine ganz normale Frau, die beim Einkaufen einen alten Bekannten getroffen hatte.
    Die Rätsel hörten nicht auf.
    »Paul war in Ordnung«, sagte Delia. »Er hatte was Besseres verdient. Ob es stimmt, was manche Leute sagen? Dass die Seele eines Ermordeten erst zur Ruhe kommt, wenn der Täter gefasst ist? Wenn der Gerechtigkeit Genüge getan wurde? Ich habe das mal irgendwo gelesen. Ich weiß nicht, ob ich es glauben soll.«
    »Keine Ahnung«, sagte ich. Ich wusste, dass etwas aus der Bahn geriet, wenn ein Mensch ermordet wurde; ich wusste aber nicht, ob es sich um die Seele des Opfers handelte oder um das Universum selbst, dessen zerfranste Fasern neu geordnet werden mussten. Ich versuchte, mir Pauls Seele vorzustellen, sah aber nichts als ein Gespenst, so wie sich Kinder zu Halloween verkleiden, ein kleines, einsames Ding unter einem weißen Bettlaken mit Gucklöchern.
    Buh, sagt das Gespenst. Ich habe dich erschreckt!

[home]
    32
    Brooklyn
    D ie Cherry Tavern war nur ein paar Blocks von Bens Bar entfernt. Es handelte sich um einen hässlichen, merkwürdig geschnittenen Laden in der 6 . Straße mit greller Beleuchtung und zu wenigen Tischen. Als wir uns an die Theke stellten und Flaschenbier bestellten, wurden wir von einem Dutzend Skinheads gemustert. Tracy und ich nahmen unsere Drinks und setzten uns zu einem dicken Typen aus Queens, der Al hieß und furchteinflößend aussah, aber bekanntermaßen ein lieber, harmloser Kerl war. Es sei denn, er hatte zu viel Schnaps getrunken. Dann wurde er wirklich furchteinflößend und war kein bisschen mehr lieb. Aber heute Abend blieb es beim Bier. Ich ging auf die Toilette, und als ich zurückkam, war Tracy schon dabei, ihn zu befragen.
    »Klar kenne ich Cathy«, sagte er. »Ich glaube sogar, sie ist hier.«
    »Hier?«, sagte ich und setzte mich wieder. »Aber wir sind doch hier.« Kurz schoss mir durch den Kopf, dass ich womöglich gar nicht hier war. Oder vielleicht war ich es doch, aber in einem anderen Hier – in einer anderen Abteilung von hier, beziehungsweise im selben Hier, bloß zu einer anderen Zeit.
    Ich schloss die Augen und sah für den Bruchteil einer Sekunde eine Frauengestalt, die in einem dunklen Gewässer ertrank. Sie sah aus wie die Anima sola, die in den Flammen untergeht. Statt ihr zu helfen, setzte ich mir eine Brille mit dicken Gläsern auf und schaute ihr beim Ertrinken zu.
    Ich öffnete die Augen. Al starrte mich an, als sei ich begriffsstutzig.
    »In der
Herrentoilette«
, sagte er.
    »Wenn du noch einmal in dem Ton mit mir sprichst«, sagte ich, »zerschlage ich meine verdammte Bierflasche in deinem Gesicht.«
    Tracy lachte.
    »Schon gut«, sagte Al, »du liebe

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