Das Ende der Welt
gesetzt, und sie schlug sich durch. Oh, da fällt mir wieder ein, wo wir uns kennengelernt haben! Sie war für ein paar Monate in Castro bei meiner Freundin Deena untergekommen. Bei Deena und ihrer Mom. Wir verbrachten viel Zeit zusammen, und irgendwann wohnte sie dann bei mir. Damals war das keine große Sache – ehrlich gesagt fanden wir es ziemlich cool, so jung und ganz allein auf uns gestellt zu sein. Im Rückblick klingt es ziemlich furchtbar. So als wären ihre Eltern nicht bei Verstand gewesen. Was sie tatsächlich nicht waren.«
»Was war denn mit ihnen?«, fragte ich.
»O je«, sagte Delia, »also ihr Vater hatte da noch eine Zweitfamilie, und er machte keinen Hehl daraus, dass er die viel lieber mochte. Ihre Mutter war fanatisch religiös. Rannte ständig in die Kirche und hielt Lydia für eine Sünderin. Wozu sie dann auch recht schnell wurde.«
»Und ihr habt Ärger bekommen?«
»O ja«, sagte Delia. »Weißt du, wenn ich eine Tochter hätte …« Sie hielt inne, trank einen Schluck Tee. »Ich würde niemandem empfehlen, uns nachzueifern, unseren Lebensstil zu kopieren. Aber ehrlich gesagt war es toll. Ich bereue keine Sekunde davon.«
»Wie habt ihr denn gelebt?«, fragte ich.
Sie sah mich an, als sei ich begriffsstutzig.
»Du weißt schon«, sagte sie. »Drogen. Jungs. Musik. Lydia sah atemberaubend aus, sie war clever und lustig. Die Männer haben ihr buchstäblich die Bude eingerannt. Aber auch in dem Punkt sollte die Sekte recht behalten; das Leben ist Veränderung, und nach Möglichkeit sollte man sich nicht beschränken oder binden. Ich wusste die ganze Zeit, dass es nicht ewig so weitergehen könnte, und eines Tages war es dann so weit. Mein Körper spielte einfach nicht mehr mit. So ein Leben hält man nicht dauerhaft durch. Irgendwann hat man keine Kraft und keinen Willen mehr. Lydia und ich hatten früh angefangen, so dass wir schon mit vierundzwanzig oder fünfundzwanzig die Folgen zu spüren bekamen. Wir waren ausgebrannt. Ich habe mich meiner Kunst zugewandt, sie ihrer Musik. Wir haben Glück gehabt. Viele der anderen Mädchen hatten weniger Glück als wir. Sie sind nicht so gut gealtert.«
»Dann hat Lydia sich also sehr für Musik interessiert?«, fragte ich. Dass es so war, wusste ich natürlich. Delia sollte einfach nur weiterreden.
»Sie war eine Besessene«, sagte sie. »Die meisten Mädchen, die wir kannten, wollten einfach nur mit den Musikern schlafen, aber sie hat Ernst gemacht. Sie kannte sich aus, hatte eine riesige Plattensammlung und reiste meilenweit, um ein bestimmtes Konzert zu sehen. Außerdem war sie talentiert. Wirklich. Ich glaube, manchmal vergessen die Leute, was für eine fantastische Gitarristin sie ist, nur weil sie so gut aussieht.«
»Aber?«, fragte ich. Es gab immer ein
aber.
Andernfalls wären wir alle perfekt, niemand würde je ermordet und keiner bräuchte einen Detektiv.
»Aber was?«, fragte Delia.
»Klingt so, als hättet ihr euren Weg gemacht«, sagte ich.
»Ja«, sagte sie, »kann sein.« Aber sie klang zögerlich.
»Trefft ihr euch noch?«, fragte ich.
»Nein«, sagte Delia, »schon lange nicht mehr.«
»Warum nicht?«, fragte ich.
»Sie hat mit meinem Mann geschlafen«, sagte Delia. »Vor etwa zehn Jahren. Ich bin inzwischen geschieden.«
»Und nicht mehr mit ihr befreundet.«
»Nein«, sagte Delia. »Nicht, dass ich sie hassen würde. Wir sind einfach nicht mehr befreundet.«
»Du klingst kein bisschen wütend«, sagte ich. »Bemerkenswert.«
Delia zuckte die Achseln. »Es war kompliziert. Ich glaube … das Ganze traf mich nicht ganz unvorbereitet.«
Ich schwieg.
»Lydia liebt die Männer«, sagte sie. »Nein, das ist es nicht. Sagen wir es so: Sie liebt es, bewundert zu werden. Immerhin hatte sie eine beschissene Kindheit. So was prägt einen Menschen. Wie soll ich es beschreiben … Es ist – und ich meine das jetzt nicht wörtlich –, als hätte jeder Mensch Antennen dafür, Liebe zu empfangen. Liebe und Zuwendung und alles, was guttut. Aber Lydias Eltern waren völlig verdreht, und so hat sie diese Antennen einfach nie ausbilden können. Es ist, als könnte sie nie, niemals im Leben … Was rede ich denn da.«
Sie stand auf, um Tee nachzuschenken.
»Ich weiß nicht mehr, was ich sagen wollte«, erklärte sie, »ich glaube, ich möchte sie immer noch mögen. Immerhin standen wir uns einmal sehr nah. Verstehst du das? So nah, wie man sich nur als Teenager stehen kann. Ich bin manchmal ganz schön aufbrausend,
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